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9. November: Fotografen erkunden die Deutsche Einheit nach dem Mauerfall

Hat schon bessere Zeiten gesehen: Erich Honecker.
Hat schon bessere Zeiten gesehen: Erich Honecker.Bild: Maximilian Gödecke
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"Wanderweg der Deutschen Einheit": Zwei Fotografen über ihre Reise

Im Frühjahr 2024 haben sich die Fotografen Philipp Czampiel und Maximilian Gödecke auf den "Wanderweg der Deutschen Einheit" begeben: Auf 1080 Kilometern sind sie von Aachen nach Görlitz einmal quer durchs Land gelaufen und haben ihre Eindrücke in Bildern festgehalten. Ist Deutschland wirklich wiedervereint?
09.11.2025, 14:5609.11.2025, 14:56

Beide wurden 1995 geboren, die Mauer haben sie nicht mehr miterlebt, auch in den Familien war die DDR nie ein präsentes Thema. Dennoch haben sich Philipp Czampiel und Maximilian Gödecke auf den Weg gemacht und sind einmal durch Deutschland gelaufen. Maximilian startete in Görlitz, Philipp in Aachen.

Wie nimmt die Generation Z die Unterschiede zwischen Ost und West wahr? Werden die Klischees künstlich am Leben erhalten – und wie können wir sie überwinden? Im Interview mit watson sprechen sie über Begegnungen, Annäherungen und darüber, wie man Entfernungen überwindet.

watson: In eurem Leben spielen die Mauer und die deutsche Teilung eigentlich kaum noch eine Rolle. Wie kamt ihr auf die Idee, euch mit dem Thema zu befassen und den "Wanderweg der Deutschen Einheit" zu erkunden?

Max: Zu Zeiten des 9-Euro-Tickets haben wir schon gedacht: Lass uns doch mal was über Deutschland machen! Aber wo fängt man an, auf Sylt? Als ich Philipp in Wuppertal besucht habe, sind wir auf den "Wanderweg der Deutschen Einheit" gestoßen. Dadurch hatten wir eine richtige Route und wollten aktuellen gesellschaftlichen Themen nachspüren. Wir haben aber schnell festgestellt, dass wir natürlich nur individuelle Erfahrungen sammeln und nicht für alle sprechen können.

Philipp: Auch das Rausgehen war uns wichtig. Die medialen Narrative haben uns frustriert und auch beängstigt. Da sind reale Begegnungen die einzige Möglichkeit, um herauszufinden, ob diese Erzählungen unsere Realität ausmachen müssen. Bevor man sich davon leiten lässt, sollte man die Menschen, über die da gesprochen wird, lieber kennenlernen.

Wo habt ihr geschlafen?

Philipp: Ich habe über Google Maps nach kostenlosen Übernachtungsmöglichkeiten gesucht, in Kommunen, bei Vereinen, aber meistens waren es günstige Pensionen, in denen ich übernachtet habe.

Max: Sowas entsteht auch einfach durch Gespräche am Gartenzaun. Man fragt ganz freundlich, ob es eine Möglichkeit gibt, hier in der Nähe in einer Scheune zu übernachten, und auf einmal stellen die Leute ein Gästezimmer bereit oder telefonieren rum, um einen Schlafplatz zu organisieren.

Die Neue Welt ist eine Sackgasse.
Die Neue Welt ist eine Sackgasse.Bild: Philipp Czampiel

Ist das ein gut besuchter Weg, sind einige Leute schon genervt von den Wanderer:innen?

Max: Niemand kennt diesen Weg. Einige verwechseln ihn mit dem "Grünen Band" an der ehemaligen Grenze, aber ich habe keinen getroffen, der den "Wanderweg der Deutschen Einheit" kannte.

Philipp: Ich habe immerhin eine Person getroffen! Eigentlich waren immer alle offen und haben sich gefreut, jemanden zu sehen, der die Strecke zu Fuß geht.

Wenn ein Kind sich vor Monstern unter dem Bett fürchtet, sagt man ja auch nicht "Du Vollidiot, es gibt keine Monster".
Maximilian Gödecke

Es gibt viele Klischees über Ost- und Westdeutschland, überspitzt gesagt: Im Osten leben nur Nazis, im Westen nur reiche Schnösel. Gab es Punkte auf der Reise, an denen ihr in diesen Klischees bestätigt wurdet?

Philipp: Ich war in einer Stadt im Osten Deutschlands mit auffällig vielen rechten Graffitis, Stickern und Plakaten. Als ich abends in einem Döner-Restaurant war, habe ich mich dabei erwischt, wie ich über die Leute dachte: "Ach, erst rechts wählen und dann Döner essen". Aber das ist auch falsch, rechte Sticker bedeuten eben nicht, dass ALLE in der Stadt rechts wählen, da wirft man schnell alle in einen Topf.

Max: Als ich im ehemaligen Osten war und Philipp im Westen, ist uns aufgefallen, dass die Leute, die mit mir reden, das Thema Einheit viel politischer wahrnehmen. Als die Mauer gefallen ist, sind Leute aus der ehemaligen DDR in den Westen gefahren, um sich das anzugucken, andersrum hat dieser Austausch nicht so stark stattgefunden. Die Menschen im Osten haben unter der Wiedervereinigung teilweise gelitten, einige Lehr- oder Studiengänge wurden nicht anerkannt, für Menschen aus der BRD hat sich nicht so viel geändert.

Welche Begegnung hat jedes Klischee gesprengt?

Max: Das hat wenig mit Ost/West zu tun, aber ich habe jemanden getroffen, der von der "Plandemie" gesprochen hat, am Ende habe ich bei ihm übernachtet. Das war jemand, der Musik für Straßenhunde in Mexiko komponiert und über jeden Grashalm ein Gedicht schreiben könnte. Eigentlich ein sehr sensibler Mensch, der einfach Angst hatte, ein bisschen wie ein Kind. Wenn ein Kind sich vor Monstern unter dem Bett fürchtet, sagt man ja auch nicht "Du Vollidiot, es gibt keine Monster", sondern man leuchtet mit der Taschenlampe unters Bett und zeigt dem Kind, dass dort nichts ist.

Philipp: Man kann wirklich nicht sagen, der Osten ist so und der Westen so. Dörfer ähneln sich, Städte auch, aber das hat nichts mit Osten und Westen zu tun.

Gibt es heute noch einen Groll zwischen Ost und West?

Philipp: Ich habe empfunden, dass wir Menschen uns doch eigentlich alle mögen. Einen Groll habe ich eher gegenüber der Politik und der Ungerechtigkeit des Systems bemerkt.

Alles wird gut.
Alles wird gut.bild: Philipp Czampiel

Max: Es gab auch Enttäuschung darüber, dass man die guten Aspekte der DDR eben auch abgeschafft hat. Eine Wut auf die "andere Seite" habe ich aber nicht wahrgenommen.

Gab es einen Punkt, an dem ihr an eure Grenzen gestoßen seid?

Max: Ich habe mich sehr mit einer Person gestritten, bei der ich geschlafen habe. Es ging um Migration, ich bin auch sehr emotional geworden, weil mich das Thema auch persönlich bewegt. Wir sind auch nicht im Guten auseinandergegangen, ich habe bis 3 Uhr nachts wachgelegen und Wahlprogramme recherchiert, es hat leider nichts gebracht. Ich habe mich bei der Person auch hinterher gemeldet und keine Antwort bekommen.

Aber die meisten Begegnungen waren positiv?

Max: Man fragt Menschen, ob man bei ihnen die Wasserflasche auffüllen kann, und sie kommen mit Brot und Banane zurück oder laden zum Mittagessen ein. Dass Menschen einander helfen, war für mich das Grundgefühl der Reise.

Menschlich ist alles okay.
Philipp Czampiel

Philipp: Mit einem Bäcker aus der Nähe von Klingenthal habe ich auch jetzt noch Kontakt. Nächstes Jahr wollen Max und ich die Nord-Süd-Route laufen und er hat mir dafür einen Plan erstellt, weil er auch Geocacher ist. Es gab einfach so viele schöne Begegnungen.

Jugendliche in Johanngeorgenstadt.
Jugendliche in Johanngeorgenstadt.Bild: Maximilian Gödecke

Ihr seid also mit einem positiven Bild aus der Sache herausgekommen?

Philipp: Ja, das ist total komisch: Menschlich ist alles okay. Über die Berichterstattung wird oft ein sehr polarisierendes und spaltendes Bild kreiert, aber die Leute kommen miteinander klar.

Max: Ich habe mit jemandem gesprochen, der meinte, dass man ja in Städten wegen der Migration nicht vor die Tür gehen kann. Dann habe ich gefragt, wie er darauf kommt und wo er Bezug zu Migration hat. Er kannte nur einen Mann mit Migrationshintergrund, und den mochte er! Trotzdem hatte er ein negatives Bild davon. Die Debatten, die wir führen, basieren oft nur auf Informationen von außen und nicht auf unseren eigenen Wahrnehmungen im Umfeld.

Worauf lag der Fokus eurer Bilder?

Philipp: Hätten wir uns vorher einen roten Faden überlegt, wären wir der Sache nicht gerecht geworden. Auch in unserer Ausstellung hingen die Bilder nicht geordnet nach Ost/West, sondern eher bunt durchmischt. Wir wollten nicht, dass die Menschen in Klischees denken, sie sollten lieber überprüfen, was die Bilder mit ihnen machen. Das ist auch die Quintessenz: Unsere eigene Wahrnehmung ist wichtig, nicht die Angst oder Klischees, die uns von außen aufgedrückt werden.

Philipp und Maximilian verkaufen ihre Bilder online für 70 Euro pro Stück, um damit die nächste Wanderung von Norddeutschland nach Süddeutschland zu finanzieren. Bei Interesse kannst du eine Mail an mail@max-goedecke.de schreiben.

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