Mit Bayern und Baden-Württemberg hat inzwischen auch in den letzten Bundesländern wieder der Unterricht des neuen Schuljahres begonnen. Der Schulstart fiel allerdings mit einer aufsehenerregenden Meldung zusammen: An deutschen Schulen fehlen derzeit 40.000 Lehrer:innen.
Wie sich der Lehrer:innenmangel auf den Unterrichtsalltag und die Lehrkräfte auswirkt, darüber hat watson mit der 35-jährigen Deutsch- und Geschichtslehrerin Johanne Gerlach gesprochen.
watson: Spürt ihr in Niedersachsen schon erste Auswirkungen des Lehrermangels?
Johanne Gerlach: Ja, auf jeden Fall. Wir müssen massiv an andere Schulen abordnen, von der Förderschule bis zur Grundschule. Jetzt fällt bei uns ein Kollege aus und genau diese Fächer haben wir abgeordnet. Deswegen gibt es Überlegungen, ob man das Fach Englisch streicht. Oder andere Kollegen müssen mehr arbeiten, um das aufzufangen.
Was bedeutet denn das Wort "abordnen"?
Geht das denn so einfach, ein anderes Fach zu unterrichten?
Ich musste beispielsweise Mathematik an der Grundschule unterrichten. Da steckt natürlich eine ganz andere Didaktik dahinter, also das Wissen darüber, wie ich dem Kind Mathematik beibringe. Das bedeutet, dass ich mich erstmal fachlich einarbeiten muss. Ich habe aber niemals die gleiche Erfahrung wie eine qualifizierte Mathematik-Lehrkraft. Noch dazu ist es natürlich ein ganz anderer Jahrgang.
Man entqualifiziert damit den ganzen Lehrberuf. Wenn plötzlich jeder Mathematik unterrichten kann, braucht man auch kein Mathematik mehr zu studieren. Unsere Kolleginnen und Kollegen erklären sich da solidarisch, weil sie die anderen Kollegen und auch die Kinder nicht im Stich lassen wollen. Alle versuchen aber, es als eine Art Fortbildung anzusehen, weil man auch viel in den eigenen Unterrichtsalltag mitnimmt.
Was zum Beispiel?
Zwei Jahre Grundschule haben mich zu einer ganz anderen Lehrkraft und wahrscheinlich auch zu einer besseren Lehrkraft werden lassen. Aber die Belastung ist total krass, wenn du an einem Schulort wohnst und 30 Kilometer an deine abgeordnete Schule fährst, dann 30 Kilometer wieder zurück, weil du an deiner eigenen Schule noch unterrichtest. Und an beiden Schulen musst du auch die Konferenzen wahrnehmen.
Wie schafft man das zeitlich überhaupt?
Die Hauptproblematik ist, dass wir bei den Lehrkräften eine unfassbar hohe Teilzeitquote haben. Das hat auch mit der Betreuungssituation zu tun. Ich unterrichte an der Ganztagsschule von 7:30 bis 16:00 Uhr, meine Kita öffnet aber erst um 7:30 Uhr. Das heißt, als Alleinerziehende oder generell als Mutter oder Vater ist es schon nicht möglich, die erste Stunde und die letzte Stunde zu unterrichten.
Es ist schon seltsam, dass es zu wenig Lehrer gibt. Das war doch immer so ein beliebter Beruf oder?
Ganz viele hören tatsächlich auf oder werden im zweiten Staatsexamen aussortiert. Dieser Zeitpunkt ist natürlich zu spät. Du hast bereits mindestens fünf Jahre in dein Studium investiert, was eine Menge Geld kostet. Kassel hat da ein Modellprojekt. Die sehen sich schon im Grundstudium an: Was bringst du mit und wo musst du an dir arbeiten?
Was müsste man verbessern?
Die Arbeitsbedingungen und die Betreuungszeiten für die eigenen Kinder. Für mich ist es tatsächlich der allerschönste Job der Welt. Das Problem ist: Er lebt immer nur von Einzelpersonen, die ganz viel Engagement da rein bringen, um das System am Leben zu halten. Es gibt keinen Masterplan für dieses Bildungssystem: Es wird nur noch auf Situationen reagiert, anstatt mal aktiv ins Gestalten zu kommen. Die Digitalisierung ist zum Beispiel das reinste Chaos. Zudem werden Grundschullehrkräfte für den echt harten Job, den sie haben, unfassbar mies bezahlt.
Wenn in eurer Schule Lehrer abgeordnet werden, fallen dann die Zusatzangebote aus?
Wir müssen schauen, dass wir dieses Angebot aufrechterhalten können – und zwar wirklich jedes Jahr. Wir sind total breit aufgestellt: Wir haben eine eigene Imkerei, einen Schulgarten, Sport, Förderprogramme und wir haben "Lerntechnik praktisch". Das geht über die reine Hausaufgabenstunde hinaus. Wir setzen uns mit den Kindern hin und versuchen Struktur in deren Ablauf zu bringen. Diese Angebote stehen jedes Jahr auf der Kippe. Und das trifft wirklich die Ärmsten der Armen. Das trifft meine geflüchteten ukrainischen Kinder, meine syrischen Kinder und die, bei denen Mama und Papa keine Zeit haben. Das bricht einem das Herz.
Wie gut klappt das mit den Quereinsteiger:innen, für die immer so viel geworben wird?
Das ist ein schwieriges Thema. Meine Lieblingskollegin ist auch Quereinsteigerin und die macht das super. Sie hat ein pädagogisches Händchen und arbeitet auch fachlich toll. Wir haben aber auch Leute, die untergehen. Du bist eben nicht einfach mal so Lehrer, sondern das ist ein Studium. Und klar kannst du die Fachlichkeit mitbringen, aber die Vermittlung des Wissens oder wie der Unterricht aufgebaut ist, das lernst du nicht in der Schulung.
Gibt es denn Mentor:innen für Quereinsteiger:innen in der Schule?
Nein und das ist ein Hauptproblem, dass es keinen festen Mentor für diese Personen gibt – auch nicht für die Referendare und Referendarinnen. In Hessen wird das anders gehandhabt. Da hat man eine feste Bezugsperson, mit der man dann auch wirklich ein halbes Jahr zusammen im Unterricht ist. Man kann sagen: Hier sind die Stellen, wo du dich noch verbessern kannst und das machst du schon richtig gut. Das müsste man ja mit den Quereinsteigern genauso regeln.
Ihr seid jetzt schon seit zwei Wochen wieder im Schulbetrieb: Gibt es viele Corona-Fälle?
Bei uns nimmt das wieder zu, aber wir haben keine Tests. Insofern bist du darauf angewiesen, dass sich die Schülerinnen und Schüler zu Hause freiwillig testen, doch das macht fast keiner mehr. Die Statistiken sind absolut nicht valide.
Rechnest du damit, dass im Winter wieder Maske und Testpflicht eingeführt werden?
Das ist ein heikles Thema und das kommt natürlich darauf an, wie die Fallzahlen sich bei uns entwickeln. Da muss das Kultusministerium frühzeitig eine geradlinige Ansage machen. Denn sonst ist keine verlässliche Planung möglich.
Inwiefern?
Bei uns fällt zum Beispiel der Schwimmunterricht aus: Noch nicht einmal die Seepferdchen-Kinder können ihre Schwimmfähigkeit trainieren. Einerseits sei zu teuer und auf der anderen Seite müsse man Gas sparen, wird dann gesagt. Aber es trifft wieder genau die, die auch in der Corona-Pandemie schon drastisch unter all den Maßnahmen gelitten haben. Wir haben drei Schwimmbäder bei uns in unmittelbarer Nähe, und die haben sie jetzt schon dichtgemacht. Das ist richtig bitter.