"Jude" als Schimpfwort, ein Witz über den Holocaust oder ein entgeisterter Blick, wenn der Gegenüber koscher essen will – Was ist eigentlich alles Antisemitismus?
Zurzeit wird vor allem von Extremfällen berichtet, wie bei einer Berliner Zweitklässlerin, die Morddrohungen bekam (Berliner Zeitung berichtete). Und vor allem von Fällen, die mit jungen Muslimen zutun haben.
Wer aber meint, dass Antisemitismus vor allem ein Migranten-Problem sei, macht es sich zu leicht. "Das Problem lässt sich nicht auf eine fix gemachte Gruppe übertragen", sagt Antisemitismus-Expertin Marina Chernivsky im Gespräch mit watson.de, "Es ist viel komplexer."
Denn: Antisemitismus geht quer durch alle Bildungs- und Gesellschaftsschichten. Und er äußert sich nicht immer so eindeutig, wie ein Schlag ins Gesicht auf dem Schulhof.
Marina Chernivsky leitet seit 15 Jahren politische Bildungsprojekte unter dem Dach der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Sie sagt: Viele von uns tragen antisemitisches Gedankengut in sich, wenn auch unabsichtlich.
Wer in Deutschland aufwächst, kommt am Thema Nationalsozialismus nicht vorbei. In Filmen und Büchern ist der Holocaust oft Thema, in der Schule werden Zeitzeugen eingeladen. Doch das kann einen ungewollten Nebeneffekt erzeugen: negative Haltungen gegenüber Juden.
Im Grunde geht es um die Abwehr von Schuldgefühlen, um das Bedürfnis, sich zu entlasten. Gefährlich, erklärt Marina Chernivsky. "Die deutsche Gesellschaft trägt ein großes Stück Gepäck mit sich herum. Und diesen Koffer will man loswerden – bei dem Versuch wird Juden häufig ihre eigene Verfolgung angelastet."
Einige Menschen möchten nicht wahrnehmen, dass es Juden in Deutschland gibt. Dass sie vielleicht sogar nebenan wohnen. Und dass sie gelegentlich Antisemitismus erleben.
Auch durch Kommentare wie: "Du sprichst aber gut Deutsch!" und "Was macht eure Regierung da unten?" wird jüdischen Menschen klar gemacht, dass sie nicht dazu gehören.
"Viele sagen aber auch: ,Ich habe noch nie Juden gesehen.' Diese Ignoranz und die Verweigerung der Zugehörigkeit sind häufig gegeben", sagt die Expertin. Dabei gibt es in Deutschland fast 100.000 jüdische Gemeindemitglieder (Bundesamt für Statistik 2016).
Das Problem: Wo es (vermeintlich) niemanden gibt, muss man auch auf niemanden Rücksicht nehmen. Stereotype über Juden, ein Witz hier und da – das kursiert schon immer in der Gesellschaft. Thematisiert wird es aber nicht, solange keiner sich beschwert. "Aber inzwischen leben mehr Juden in Deutschland. Sie sind emanzipiert, selbstbewusst und wollen ihre Stimmen hörbar machen.“ sagt Marina Chernivsky.
Für die Expertin vermengt sich "Israelkritik" sehr schnell mit antisemitischen Zwischentönen. "Es gibt wenig differenziertes Wissen über den Konflikt, aber das Bedürfnis darüber zu sprechen ist enorm groß."
Juden in Deutschland müssten sich permanent für den Nahostkonflikt rechtfertigen. Und häufig geht "Israelkritik" einher mit einem Paket an Verschwörungstheorien.
Es sei dem Antisemitismus sehr eigen, dass er ausgerechnet durch Aufwertung schadet. "Juden wird eine außergewöhnliche Macht zugeschrieben. Solche Verschwörungstheorien kommen genauso aus dem rechten, wie aus dem linken und islamistischen Spektrum."
Das kann gefährlich werden, weil es den Nährboden für ideologische Gewalttaten bildet. "Neurechte Parteien, der politische Islam oder Rechtsextreme wie die NSU – das sind nicht mehr nur nachgeplapperte Sätze, sondern Aktionen."
"Jude" ist zum Schimpfwort auf Schulhöfen geworden. "Wenn Kinder auf dem Schulhof ,Jude' sagen und damit Opfer, Verräter, Schwächling meinen, dann ist das nicht nur ein Teil ihrer Jugendkultur, sondern eine negativ aufgeladene Abwertung des Jüdischen. Bleiben solche Äußerungen stehen, werden sie zur sozial geteilten Norm", sagt Marina Chernivsky.
Die Gefahr: Solche Sprüche werten jüdische Menschen ab. Und sie verunsichern zutiefst. "Gedanken werden irgendwann zu Taten. Das ist besorgniserregend."
Laut RIAS (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus) gab es vergangenes Jahr 17 antisemitische Vorfälle an Schulen, die Dunkelziffer sei aber viel größer.
In der pädagogischen Arbeit wurde der Shoa viel Zeit gewidmet. Aufgegangen ist der Plan aber nicht, sagt die Wissenschaftlerin: "Der Judenhass wirkte auch nach 1945 weiter, wurde aber nie umfassend bearbeitet. Heute überlagern sich die alten und neuen Formen.“
Die Deutschen neigen zur übermäßigen Thematisierung nach dem Motto: Wir müssen alles tun, damit Juden sich hier wieder zuhause fühlen. Deshalb fällt so oft der Satz: "Nie wieder Auschwitz!"
„Es gibt eine Tendenz gegen Antisemitismus zu sein, weil Juden so furchtbar verfolgt wurden", sagt Marina Chernivsky. Und so wichtig das ist – eigentlich sollte man diese Ermahnung nicht brauchen. Denn Judenhass muss verurteilt werden "einfach weil er eine Menschenrechtsverletzung darstellt“.
Gut gemeint und trotzdem daneben ist auch die übermäßige Idealisierung von Juden. Eine Art positiver Antisemitismus.
Marina Chernivsky war im Stress, sie wollte nach Hause, zu ihren Kindern. "Ich dachte nur: Bitte arbeite dich nicht an mir ab, nur weil ich Jüdin bin."
Menschen würden ihr ungefragt erzählen, wie viele jüdische Freunde sie hätten oder ob ihre Familie am dritten Reich beteiligt war. Aber nicht jeder will als Botschafter und Vermittler herhalten.
"Es ist eben eine gestörte Beziehung", sagt Marina Chervnisky. "Gleichzeitig ist es nicht ausweglos." Um wieder näher zusammenzurücken, brauche es vor allem – Ehrlichkeit. Auch sich selbst gegenüber.