Wer heute die Nachrichten liest, bleibt verwirrt zurück: Die Neu-Infektionszahlen stiegen auf 11.912 am Tag – gleichzeitig hat der Bund erste Öffnungen des derzeit herrschenden Lockdowns beschlossen. Wäre das ein Film, würde mindestens ein Zuschauer nun gegen die Leinwand brüllen: Logikfehler! Denn nichts anderes sehen wir hier.
Vor allem aber ist es ein seltsames Signal an die Bevölkerung, die sich monatelang zurückgehalten hat. Wir sind nicht in Bars gegangen, wir haben keine Geburtstage gefeiert, viele Menschen haben ihre Jobs, Existenzen und Nerven verloren, ganze Städte wurden dichtgemacht, weil Inzidenzzahlen von 50 (!) lange als zu gefährlich galten.
Gebetsmühlenartig wurde uns erklärt, wie fatal exponentielles Wachstum in einer Pandemie ist und wie erschöpft die Intensivmediziner in den deutschen Kliniken. Wie schlimm die Spätfolgen von Corona sein können und wie viel Verantwortung gerade auf den jungen Menschen lastet, die zwar selbst kaum schwer erkranken, aber andere anstecken können.
Fühlt sich noch jemand verarscht, wenn es jetzt heißt, bei steigenden Infektionszahlen und einer Inzidenz knapp unter 100 könne man wieder öffnen? Hätte man das nicht schon früher so handhaben können? Bevor tausende Selbstständige ihr Erspartes aufbrauchten und Jugendliche psychische Krankheiten entwickelten?
Oder andersrum: Wenn man schon einen Lockdown durchzieht, warum dann nicht, bis es wirklich sicher ist? Bis die Inzidenzwerte so niedrig sind, dass jeder Kontakt zurückverfolgt werden kann? Warum nicht Landkreise erst öffnen, wenn die Impfrate dort wenigstens fünfzig Prozent beträgt? Denn so bleibt es eine halbherzige Entscheidung, die nur ein schales Gefühl zurücklässt: Alles war umsonst.
Es scheint, als hätten die Politiker monatelang an kollektive Vernunft appelliert, an wissenschaftliche Fakten und gemeinschaftliche Verantwortung erinnert, nur um zuletzt von Corona-Müdigkeit dahingerafft die Augen zu schließen. Oder, was noch schlimmer wäre: Sie wissen es eigentlich besser, wollen sich aber nicht weiter unbeliebt bei ihren Wählern machen.
Ich würde die aktuelle Entscheidung ja verstehen, wenn denn schon eine echte Veränderung stattgefunden hätte. Wenn eine kritische Masse an Menschen geimpft wäre, zum Beispiel. Oder seit Wochen flächendeckend Schnelltests angeboten würden und jeder wüsste, wie und wann man sie nutzt. Am besten beides. Aber davon sind wir noch weit entfernt.
Gerade einmal 2,7 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung wurde laut dem Gesundheitsministerium bislang vollständig geimpft (Stand 03.03). Und die flächendeckenden Gratis-Schnelltests sind zwar für Mitte März angekündigt, doch auch dieser Termin verschiebt sich seit Wochen. So wird also geöffnet werden, bevor es eine durchdachte Strategie zu geben scheint. Und wenn ich deshalb jetzt, nach einem ganzen Jahr Einsamkeit im Homeoffice und Überforderung mit heimischer Kinderbetreuung am Ende doch noch Corona bekomme, werde ich wirklich sauer.
Natürlich freue auch ich mich, dass ich bald mit Freunden meine Lieblingsrestaurants wieder besuchen darf. Mir fehlt das auch! Aber all die Monate, in denen das nicht ging, weil wir uns gegenseitig schützen wollten, liegen mir schwer im Magen. Denn die Entscheidung der Regierung lässt eigentlich nur zwei Schlüsse zu: Entweder das Miteinander war nie gefährlich, und der Verzicht damit umsonst. Oder es ist weiterhin gefährlich und dann ist die Lockdown-Aufweichung Irrsinn.
Ich will es nicht heraufbeschwören, aber ich sehe schon, wie uns diese Entscheidung auf die Füße fällt. Heiligabend haben wir allein gefeiert. Silvester haben wir allein gefeiert. Immer mit dem Argument, niemanden gefährden zu wollen, dass es sonst vielleicht "das letzte Weihnachten mit den Großeltern" war, wie die Bundeskanzlerin mahnte.
Doch wenn die Öffnung des Lockdowns nach Monaten des Verzichts nun zu früh kommt, wird es noch bitterer: Denn dann bestünde nicht nur das Risiko, das kommende Weihnachtsfest ohne die Großeltern zu feiern, sondern wir hätten noch dazu ihr letztes im Jahr 2020 verpasst.