"Nächstes Jahr dann wieder", sagte ich und ließ meine Kinder ins Handy winken, wo man Omas Ohr und Opas Stirn in Großaufnahme sah (damals waren Videocalls für sie noch neu). Die Großeltern winkten zurück, dann gingen wir alle in den Hinterhof, Schoko-Eier suchen. So war Ostern bei mir 2020.
Unfeierlich und unfamiliär, aber es ist ja eine Ausnahme, dachte ich damals. Im Sommer haben wir das Virus ausgetrocknet. Spätestens an Weihnachten. Doch Heiligabend hingen wir wieder am Smartphone, diesmal sahen wir die Gesichter komplett. "Ostern dann wieder", tröstete ich meine Schwiegereltern, die den Tränen nahe waren. "Es soll doch jetzt ganz schnell geimpft werden, dann wird alles besser."
Jeder ahnt, wie die Geschichte ausgeht, oder? Kommende Woche ist besagtes Osterfest 2021. Und Oma und Opa fragen erneut, ob man sich sieht. Und die Bundesregierung sagt erneut, dass man es lassen sollte. Mit einem Unterschied: Die Lage ist jetzt noch viel schlimmer.
Am Ostersonntag 2020 hatten wir 2946 Neuinfektionen am Tag, momentan sind es mehr als doppelt so viele (7709 laut RKI), auch ein Zuwachs an Testungen kann das nicht beschönigen. In der Zwischenzeit sind in Deutschland 74.714 Menschen an Covid-19 gestorben. Wer sich das nicht vorstellen kann: Das ist in etwa die Zuschauerzahl der ausverkauften Allianz Arena in München. Intensivmediziner warnen, dass der Anstieg der Corona-Patienten die Kliniken schon bald überlasten könne und die Notbremse gezogen werden müsse. Beim heutigen Gipfel von Bund und Landesregierungen geht es daher erneut um Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und eine Verlängerung des Lockdowns bis über das Osterfest hinaus.
In Anbetracht dessen schäme ich mich für die Naivität, mit der ich vergangenes Jahr noch herumgelaufen bin. "Dieser Lockdown ist ganz schön hart", dachte ich. "Aber das kriegen die Politiker irgendwie hin, die haben ja Experten an der Seite. Bin auch froh, jetzt in Deutschland zu leben, wo alles nach Plan funktioniert." (Bitte schallendes Gelächter hier einfügen!)
Wenn wir einkaufen gingen, schoss ich Fotos von Menschen mit Masken und den Türstehern bei Edeka. Ich fotografierte auch Regale voller Desinfektionsmittel und Abstandsmarkierungen auf dem Boden. Ich schüttelte fassungslos den Kopf, wollte den ganzen Wahnsinn "schnell noch" festhalten, bevor es vorbei ist und es mir keiner mehr glaubt. Ich hätte mich gar nicht so beeilen müssen.
Heute schieße ich keine Fotos mehr, denn was ich damals als Ausnahmezustand betrachtete, ist schon lange langweilige Normalität. Wir erleben eine Gleichförmigkeit des Absurden: Maskenpflicht, Click & Collect, Notbetreuung, Nothilfen, Homeoffice und Zoom-Konferenz.
Fast jede Woche gibt es neue Beschlüsse, Urlaube wurden spontan gebucht und umgeschmissen, Impfstoffe und Studien in gigantischer Geschwindigkeit herausgebracht. Doch das Seltsame ist: Obwohl die Welt sich schneller und schneller zu drehen schien – im eigenen Empfinden war da nur Stillstand.
Ich erkrankte nicht (Gott sei Dank) und ich wurde nicht geimpft (leider). Ich schloss keine neuen Freundschaften (wie auch), sah keine neuen Länder (wie auch) und nicht mal den neuen James-Bond-Film (der ursprünglich im April 2020 ins Kino kommen sollte). Ich hänge weiter in derselben Schlaufe aus Abwarten, Hoffen und Frust fest, in die wir alle vor zwölf Monaten geschubst wurden. Nur, dass der Frust bei mir über die Zeit ganz gewaltig anschwoll – und damit bin ich sicher nicht alleine.
Neben gebrochenen Versprechen zu flächendeckenden Impfungen und Tests für alle, hangeln wir uns doch alle mit schwindender Energie von Monat zu Monat ohne den Hauch einer Idee, wann Corona denn nun wirklich Geschichte sein könnte. Im Herbst? Im nächsten Jahr? Vielleicht nie?
In den christlichen Kirchen gilt Ostern als Fest der Hoffnung und Auferstehung. Mit Glauben hat es aber weniger zu tun, wenn ich sage: Trotz aller Wut und aller Erschöpfung – Ich hoffe immer noch auf ein Ende dieser Pandemie. Denn: Was soll man denn sonst tun?!
Meine Naivität von damals ist weg, ganz klar. Das Vertrauen in die Regierung auch. Der Druck auf die Politiker steigt und das ist genau richtig so. Aber Maske-Wegschmeißen und ab in den Urlaub ist kein politischer Protest, der diese Krise schnell beseitigt. "Die Abwesenheit von Hoffnung kann eine Gesellschaft von innen verwesen lassen", sagte Barack Obama 2009 in einer Rede in Oslo. Und er hat recht. Hoffnungslosigkeit öffnet Lethargie und Egoismus Tür und Tor. Das können wir uns schlicht nicht leisten.
“Stand heute werden wir (...) zum 14. Juli die Möglichkeit haben, Immunität auf dem Kontinent zu erreichen", sagte Thierry Breton, Leiter der Impf-Taskforce der EU-Kommission erst gestern im TV. Ein großer Teil von mir will dazu sagen: "Wer das glaubt, glaubt wohl auch an den Osterhasen." Aber ein kleiner, äußerst hartnäckiger Teil möchte dennoch, dass es wahr ist. Nicht, weil ich den Politikern das gönnen würde – sondern uns allen, insbesondere den Menschen, die im vergangenen Jahr genau die Handlungsstärke und Kreativität bewiesen haben, die im Bundestag und in den Ministerien so schmerzlich fehlt.
Es gibt Hausärzte, die schnell und unbürokratisch impfen wollen. Es gibt Hotelbesitzer, die ihr Erspartes aufbrauchen, um Mitarbeiter zu halten. Es gibt Nachbarn, die für Mitmenschen in Quarantäne einkaufen gehen. Genau das macht mir nach einem Jahr Corona-Stillstand noch Mut. Und so werde ich am Ostersonntag Oma und Opa anrufen, die Kinder wieder in die Kamera winken lassen und mit Überzeugung sagen: "Weihnachten wieder." Dann aber echt.