Deutschland scheint einen neuen Feind gefunden zu haben: Nach "dem Flüchtling" und "dem alten weißen Mann" sind es seit Beginn der Corona-Pandemie nun "die jungen Leute". Zu tief sitzt das Bild des egoistischen Jungspunds, der wild über alle Hygienemaßnahmen hinwegfeiert und eifrig Viren verbreitet, während alle Menschen jenseits der 30 selbstverständlich brav zu Hause sitzen und nur im absoluten Ausnahmefall das Haus verlassen. Und auch dann nur mit Maske und Armeslänge Abstand zu den Mitmenschen.
Wer glaubt, die Superspreader befinden sich allesamt im ersten Quartal ihres Lebens, während fortgeschrittenes Alter vor Dummheit schützt, für den habe ich eine unangenehme Wahrheit: Das Coronavirus kennt kein Alter. Genauso wenig, wie es Reisebeschränkungen, Beherbergungsverbote oder Sperrstunden kennt. Um es mal richtig flach zu sagen: Nur weil Corinna um 23 Uhr heim geht, tut Corona es ihr nicht nach. Scheißegal, wie alt Corinna und ihre Freunde sein mögen.
Ja, die Lage ist ernst. Jeden Tag vermeldet das Robert-Koch-Institut Zahlen, die mittlerweile in schwindelerregende Höhen steigen, ein Ende ist nicht in Sicht. Es scheint, als würde Angela Merkels Prognose, an Weihnachten würden wir 19.000 Neuansteckungen pro Tag haben, schon früher erreicht werden, wenn das so weiter geht. Von einzelnen Hotspots in Deutschland zu sprechen wirkt in Anbracht der Lage eigentlich fast schon ironisch. Wir stehen hier vor so einem flächendeckenden Problem, dass es nicht nur vermessen, sondern gerade realitätsfremd ist, es auf eine einzige Personengruppe abzuwälzen: die Schüler und Schülerinnen, Auszubildende, Studierende und junge Berufseinsteiger.
Wir wissen mittlerweile, dass das meiste Ansteckungsgeschehen im privaten Rahmen stattfindet – also im eigenen Haushalt, in der Wohngruppe oder im Heim, und ja, natürlich auch beim Feiern, wo wir uns näherkommen, umarmen und im schlimmsten Fall gegenseitig ins Gesicht husten.
Wer allerdings in seinem Leben schon einmal auf einer Hochzeit, einer Geburtstags- oder Familienfeier gewesen ist, weiß: Hier sind Menschen aller Generationen vertreten. Heiraten tut man nicht nur in seinen 20ern. Geburtstag hat man auch mit 50. Und Familie auch mit 80. Nur, weil das Bild vom 18-jährigen Raver irgendwie knackiger ist, heißt das nicht automatisch, dass alle anderen 18-Jährigen ähnlich verantwortungslos sind. Genauso wenig, wie Tante Erna es sich nehmen lässt, von Gütersloh nach Buxtehude zu fahren, um die Enkel zu knuddeln, während die meisten ihrer Altersgenossinnen sich wohl an die Vorsichtsmaßnahmen halten.
Wir stecken alle gemeinsam in dieser Krise. Wir sind momentan alle verletzlich, wenn auch nicht auf dieselbe Art und Weise. Wer Familie hat, spürt die Doppelbelastung von Kind und Karriere nun besonders. Wer im medizinischen Bereich arbeitet, sieht die Auswirkungen des Virus jeden Tag mit eigenen Augen. Wer schon älter ist und einsam zu Hause sitzt, droht, sich in der Isolation erst richtig im Stich gelassen zu fühlen. All diese Menschen sind besonders von Corona bedroht – unverwundbar sind junge Menschen deswegen im Umkehrschluss noch lange nicht.
Wer nun die Schule abschließt, weiß in Anbetracht der unsicheren Wirtschaftslage womöglich nicht, wie es mit der Ausbildungsplatz- oder Jobsuche weiter gehen soll. Ob der Unterricht in der Uni regulär stattfinden kann, ist ungewiss. Wer sich darauf gefreut hat, dieses Jahr Work and Travel zu machen, ein Auslandspraktikum oder anderweitige große Träume zu verwirklichen, für die man später im Leben womöglich keine Gelegenheit mehr hat, fühlt sich dieser Möglichkeiten beraubt.
Und nein, das sind keine Dinge, die man nur so zum Spaß macht, sondern prägende Erfahrungen. Das Gefühl, zum ersten Mal im Leben auf eigenen Beinen stehen zu können, fällt im Jahr 2020 für eine ganze Generation einfach weg.
Das ist natürlich keine Entschuldigung dafür, zum Hasenheide-Rave in Berlin zu gehen und sich mit zig anderen Menschen zusammen die Birne wegzuballern. Das machen allerdings die allerwenigstens jungen Menschen. Die meisten halten sich, genauso wie die anderen, älteren Mitglieder der Bevölkerung, an die Maßnahmen, um das Infektionsgeschehen zu minimieren. Das zeigt auch eine Studie der Tui-Stiftung: Die Akzeptanz für die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ist hoch, 83 Prozent der Befragten halten sie ein, die allermeisten davon (89 Prozent) um die Gesundheit anderer zu schützen. Lediglich zwei Prozent missachten die Maßnahmen nach eigenen Angaben.
Wer jetzt allerdings wegen Corona seiner Jugend beraubt wird, dem können wir wenigstens eins entgegenbringen: ein bisschen Verständnis. Genauso, wie viele junge Menschen versuchen, den älteren Verständnis entgegenzubringen und sie durch Einschränkungen in ihrem eigenen Alltag zu schützen.
Die erste pandemische Welle im Frühjahr müsste uns allen doch gezeigt haben: Je weiter wir wegen Corona physisch auseinander gehen, umso enger müssen wir mental zusammenrücken. Die Krise ist groß und das Bedürfnis, einen Sündenbock zu finden, sicherlich ebenso. Die große Katastrophe verhindern können wir allerdings nur alle gemeinsam, ob alt oder jung.