Leben
Nah dran

Gender Disappointment: Wenn Eltern vom Geschlecht enttäuscht sind

A close-up of a cupcake with a decorative topper that reads "Boy or Girl?" in a gender reveal party setting. The cupcake is part of a festive display, on a wooden table with other cupcakes a ...
Zwischen Zuckerguss und Genderstereotyp: Wie viel elterliche Erwartung steckt wirklich in dieser einen Frage?Bild: Getty Images / Dieter Stemmet
Nah dran

Gender Disappointment: Wenn das Baby nicht dem Wunschgeschlecht entspricht

Was passiert, wenn das Baby nicht das Wunschgeschlecht hat? Ein Thema, das viele betrifft, aber kaum jemand laut ausspricht. Influencerin Milena spricht offen über ihre Gefühle – und Soziologin Jana Mikats ordnet ein, warum solche Gedanken viel normaler sind, als wir glauben.
05.08.2025, 07:5005.08.2025, 08:23
Mehr «Leben»

Warum löst ein biologisches Geschlecht so viele Emotionen aus, noch bevor das Kind überhaupt auf der Welt ist? Watson hat sich das Thema Gender Disappointment genauer angesehen: Was wie ein privater Moment aussieht, berührt größere Fragen, über Gender, Druck auf Eltern und darüber, was wir Kindern vor ihrer Geburt schon alles zuschreiben.

Dafür haben wir mit Influencerin Milena gesprochen, die selbst bald Mama wird – und mit Soziologin und Genderforscherin Jana Mikats, die das Phänomen aus wissenschaftlicher Perspektive einordnet.

"Ich wollte schon als Kind unbedingt ein Mädchen", sagt Milena. Sie ist Influencerin und vor zwei Jahren nach Zypern ausgewandert. Auf ihrem Account milenka.emilia gibt sie Einblicke in ihren Alltag. Im August erwartet sie ihr erstes Kind, einen kleinen "Baby Boy", wie sie ihren Sohn liebevoll in ihren Storys nennt.

"Ich war traurig. Ich war enttäuscht. Und ja, ich war sogar neidisch auf andere Schwangere, die ein Mädchen bekommen."
Influencerin Milena

Doch damit hat die 33-Jährige eigentlich nicht gerechnet: "Für mich war das einfach klar, dass ich eine Mädchen-Mama bin. Ich habe da so fest daran geglaubt, dass ich mich emotional gar nicht auf etwas anderes vorbereitet habe."

Ihre Angst vor dem Gender Reveal hat sie in einem Reel auf Instagram geteilt. Zu sehen: eine junge Frau, die schluchzt, weil ihr großer Traum vom Mädchen nicht in Erfüllung gehen könnte. Die Kommentare? Zwischen Mitgefühl und völliger Fassungslosigkeit. Milena wurde dafür kritisiert, gefeiert, beschämt und verstanden.

Als der Moment der Wahrheit kam, schlug die Trauer unerwartet heftig zu. "Ich war traurig. Ich war enttäuscht. Und ja, ich war sogar neidisch auf andere Schwangere, die ein Mädchen bekommen," erzählt Milena. Heute schämt sie sich nicht mehr für diesen Gefühlsausbruch, aber der Weg dorthin war nicht einfach. "Ich habe lange gedacht: Was stimmt nicht mit mir? Darf man das überhaupt fühlen?"

Darf man. Und man ist damit auch nicht allein. Soziologin und Genderforscherin Jana Mikats erklärt: "Gender Disappointment, also die Enttäuschung über das Geschlecht des eigenen Kindes, ist ein reales Phänomen. Es ist sozial tief verankert, auch wenn es kaum thematisiert wird."

Gerade für Mütter sei der Erwartungsdruck besonders hoch. "Von Frauen wird eine bedingungslose Vorfreude erwartet. Alles andere gilt schnell als egoistisch oder herzlos." Für Männer gelten diese hohen Erwartungen in der Gesellschaft übrigens nicht.

Soziologin Jana Mikats.Bild: privat / Jana Mikats
Zur Expertin
Dr.in Jana Mikats ist Soziologin aus Wien. Sie forscht zu Gender, Familie und Kindheit. In ihrer Arbeit beleuchtet sie soziale Ungleichheiten im Spannungsfeld von Erwerbs- und Sorgearbeit und öffentliche Debatten rund um Gender und Sexualität in der Kindheit.

Für Influencerin Milena war der öffentliche Umgang ein Versuch, dieses Schweigen zu brechen. Expertin Jana Mikats sieht genau darin eine wichtige Funktion von Social Media: "Es kann enttabuisierend wirken, aber auch inszenierend. Gender Reveal Partys sind oft aufgeladen mit Klischees, Farben, Symbolik. Das erzeugt Erwartung und performt Geschlecht, bevor das Kind überhaupt geboren ist."

Für manche könne das eine reale Belastung sein, für andere wiederum eine Unsicherheit, die durch gesellschaftliche Normen verstärkt werde.

"Gerade in einer Phase, in der man wenig weiß, über den Verlauf der Schwangerschaft, das Kind, das eigene Elternsein, kann das Geschlecht wie ein Anker wirken."

Ebenfalls verweist die Expertin auf die wissenschaftliche Arbeit einer Kollegin, der Soziologin Laura Wiesböck. Diese beschreibt in ihrem Buch "Digitale Diagnosen", dass solche Begriffe wie Gender Disappoinment auf Social Media oft als Entlastung fungieren können.

In einer leistungsorientierten Gesellschaft bieten sie einen legitimen Rahmen, um Überforderung oder Traurigkeit öffentlich auszudrücken – ohne sich selbst die Schuld zu geben. Verantwortung und Emotionen werden dabei auf die "Diagnose" übertragen, was Zugehörigkeit schaffen und Aufmerksamkeit generieren kann.

Die Erkenntnis für Milena, dass all das nur Wunschprojektionen waren, kam schrittweise. "Ich habe viel geweint, mit Freundinnen gesprochen, versucht, mein Denken umzuprogrammieren. Dann habe ich bewusst kleine Sachen gekauft, Babykleidung für Jungs, aber süß, mit liebevollen Details. Ich wollte mich emotional verbinden."

Denn grundsätzlich findet die werdende Mama Mädchenkleidung und Mädchennamen viel süßer, kann sich mit dem Angebot für Jungs nur schwer anfreunden.

Die Soziologin erklärt: "Gerade in einer Phase, in der man wenig weiß, über den Verlauf der Schwangerschaft, das Kind, das eigene Elternsein, kann das Geschlecht wie ein Anker wirken. Das scheint greifbar. Aber es ist natürlich eine Illusion von Sicherheit."

"Ich werde meinem Sohn sagen: Ich war traurig, aber nicht, weil du du bist. Sondern, weil ich etwas anderes erwartet habe."
Milena

Dabei sei das Konzept "Gender Reveal" selbst relativ neu – erst seit wenigen Jahrzehnten können Ärzt:innen das Geschlecht im Ultraschall überhaupt frühzeitig erkennen. Trotzdem hat sich um diese Information ein riesiger kommerzieller Markt gebildet, inklusive Ästhetik, Content-Formaten und Influencer-Reels.

"Viele haben bestimmte Idealbilder: wie das eigene Kind sein soll, welche Rolle es erfüllt, was man gemeinsam erleben möchte. Diese Bilder geben Halt, können aber auch Druck machen", so die Soziologin.

Dabei sei das Erleben von Gender Disappointment ganz individuell. "Für die einen ist es eine Phase, für andere ein tiefer Schmerz. Manchmal kann das auch in Richtung einer psychischen Belastung gehen, dann braucht es professionelle Unterstützung."

Ist Gender Disappointment vermeidbar?

Kann man sich im Vorfeld vorbereiten: weniger Wunsch, mehr Offenheit? "Bis zu einem gewissen Grad schon", weiß die Expertin. "Indem man sich bewusst fragt: Warum wünsche ich mir ein bestimmtes Geschlecht? Was verbinde ich damit? Und was sagt das über mich aus?"

Die Antworten darauf seien oft aufschlussreicher als erwartet. "Es geht viel um Selbstbilder: Was oder wer will ich als Mutter oder Vater sein. Und was erwarte ich von einem Kind, das noch gar nicht da ist."

"Wir sind alle Teil einer Gesellschaft, in der Geschlechterbilder tief verwurzelt sind. Man kann sich dem nie ganz entziehen."
Jana Mikats

Milena hat in diesem Prozess viel über sich selbst gelernt. Auf die Frage, wie sie damit umgehen wird, wenn ihr Kind ihre Videos sieht, antwortet sie: "Ich werde meinem Sohn sagen: Ich war traurig, aber nicht, weil du du bist. Sondern, weil ich etwas anderes erwartet habe. Aber das war mein Thema, nicht deins."

Auch Expertin Mikats plädiert für Offenheit. "Kinder sind kompetent. Sie können mit Ambivalenzen umgehen, manchmal besser, als Erwachsene ihnen zutrauen. Wichtig ist, ehrlich zu sein und nichts zu verschweigen. Gefühle lassen sich nicht löschen, aber man kann sie einordnen."

Was bleibt, ist eine neue Perspektive, auf das eigene Elternsein, aber auch auf gesellschaftliche Rollenbilder. Milena sagt heute: "Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal so empfinde. Aber ich bin jetzt neugierig auf das Leben mit einem Jungen."

Und Expertin Jana Mikats erinnert: "Wir sind alle Teil einer Gesellschaft, in der Geschlechterbilder tief verwurzelt sind. Man kann sich dem nie ganz entziehen, aber man kann anfangen, darüber nachzudenken. Und das ist ein wichtiger Schritt."

Denn am Ende, da sind sich beide einig, geht es nicht um die Farbe der Babykleidung oder um das Gefühl bei einem Gender Reveal. Es geht darum, Platz zu schaffen: für echte Gefühle, ehrliche Gespräche und Kinder, die einfach sie selbst sein dürfen.

Deutschlandticket: Die schönsten Geheimtipps in Sachsen
Durchs ganze Land fahren oder auch einfach das eigene Bundesland erkunden: Beides ist mit dem Deutschlandticket bequem möglich. Welche Geheimtipps du in Sachsen nicht verpassen darfst, erfährst du hier.
Dresden und Leipzig sind schöne Städte und wurden schon von Dichter:innen und Denker:innen hochgelobt. Aber Sachsen hat noch mehr zu bieten. Welche Orte hier ohne Massen von Tourist:innen auskommen und mit dem Deutschlandticket gut erreichbar sind, erfährst du bei watson.
Zur Story