Es war DER Aufreger der diesjährigen Oscar-Verleihung: Schauspieler Will Smith verpasste dem Komiker Chris Rock mitten auf der Bühne eine schallende Ohrfeige, weil dieser sich über Smiths Ehefrau lustig gemacht hatte. Der geschmacklose Witz des US-Komikers bezog sich auf den rasierten Kopf von Jada Pinkett Smith.
Er verglich die Schauspielerin mit Demi Moore in ihrer Rolle aus dem Film "Die Akte Jane" – dort trägt Moore ebenfalls Glatze. Allerdings ist Jadas Frisur kein modisches Statement, sondern Ergebnis einer Krankheit: Die 50-Jährige leidet unter Alopecia Areate, kreisrundem Haarausfall. "Nimm den Namen meiner Frau nicht in deinen verdammten Mund", rief Will Smith nach seinem Angriff immer noch wütend aus dem Zuschauerraum herauf.
Kristina Rau sagt dazu gegenüber watson: "Ich finde die Ohrfeige überhaupt nicht okay, Gewalt sollte nie die Lösung sein." Auch Kristina lebt mit Alopecia Areate, seit sie als Zwölfjährige die Diagnose bekam. Seit elf Jahren hat sie überhaupt keine Haare mehr.
1,5 Millionen Deutsche sind von der Krankheit betroffen, bei der die Haare, insbesondere am Kopf, kreisrund ausfallen.
Bislang geht man davon aus, dass bei den Betroffenen eine Störung des Immunsystems vorliegt, allerdings sind sowohl die Ursachen als auch die Behandlungsmöglichkeiten noch weitestgehend unerforscht, wie der Verein Alopecia Areata Deutschland anmerkt.
Obwohl Kristina Rau die Reaktion von Will Smith bei den Oscars nicht okay findet, hat sie Verständnis: "Ich kann jedoch nachvollziehen, warum er so reagiert hat. Er hat seine Frau begleitet, während sie ihre Haare verloren hat, wie sie selbstbewusster damit geworden ist und an die Öffentlichkeit gegangen ist. Aber er hat auch miterlebt, wie schwierig das Thema für sie war und vermutlich noch ist."
Auf der Instagram-Seite "Alopecia Gesichter" geben Kristina und eine Freundin Alopecia-Erkrankten einen Raum, sich zu zeigen und zu ihrer Krankheit zu stehen. "Nur weil jemand offen mit seiner Krankheit umgeht, heißt das nicht, dass derjenige nicht verletzt ist, wenn Witze auf dessen Kosten gemacht werden", erklärt Kristina. "Ich bin der Meinung, dass der Spruch von Chris mehr als nur ein schlechter Witz war. Vor einem Millionenpublikum bloßgestellt zu werden tut weh, das sieht man vor allem an Jadas Gesichtsausdruck."
Rau denkt auch daran, welches Zeichen es setze, wenn bei einer Veranstaltung wie den Oscars eine Frau vom Host gemobbt werde. Viele Kinder litten an Alopecia und würden die Krankheit aus Angst verstecken: "Vor wenigen Tagen erst hat sich eine 12-Jährige in den USA das Leben genommen, weil sie aufgrund ihrer Alopecia gemobbt wurde."
Rau sagt:
Wie schwierig der Weg dahin ist, seine Krankheit zu akzeptieren, weiß Kristina Rau selbst aus eigener Erfahrung. Auch sie selbst hat sich schon viele blöde Kommentare oder Witze anhören müssen. Selbst ein lapidares "Es sind ja nur Haare" von Nicht-Betroffenen tue weh.
Sie sagt:
Eine Alopecia-Erkrankung ist eine schwere Diagnose: Vor allem wenn auch Augenbrauen und Wimpern ausfallen, verändere sich das komplette Aussehen einer Person: "Viele fühlen sich ihrer Identität beraubt. Damit muss man erst einmal lernen, umzugehen. Bis man an diesem Punkt ist, ist es so viel mehr als 'nur Haare."
Rau erzählt:
Selbst lieb gemeinte Komplimente könnten verletzend sein, erklärt die 31-Jährige.
"Ich würde mir wünschen, dass die Gesellschaft sensibler damit umgehen würde. Nicht jeder ist an dem Punkt, seine Alopecia so akzeptiert zu haben", sagt sie.
Auch Leonie Brachthäuser versucht, den Betroffenen über Instagram der Krankheit ein Gesicht zu geben und so die Gesellschaft aufzuklären. Viele Menschen haben noch nie etwas von der Krankheit gehört und tapsen so in oft schmerzliche Fettnäpfchen. Besonders oft würden die Menschen, die Alopecia erkrankt sind, mit Krebskranken verwechselt. Beim Joggen hörte sie schon öfter Kommentare wie "Dafür, dass du Krebs hast, bist aber ganz schön fit", berichtet Leonie im Gespräch mit watson.
Die 26-Jährige ist heute Alopecia-Model. Der Weg dahin war nicht leicht: Ende 2016 bekam sie die Diagnose, 2017 hatte sie keine Haare mehr. "Ich hatte schon echt Angst, wie ich und die anderen Menschen, also die Gesellschaft, damit umgehen wird", sagt sie. Doch Augenbrauen aufmalen und Perücken fühlten sich falsch an, passten nicht zu ihr.
In der Woche, in der sie die Glatze bekam, machte sie drei Tage lang ein Pro-Contra-Liste: "Und da hatte ich halt tatsächlich mehr Positives als Negatives draufstehen." Zwei oder drei Tage sei sie noch mit Mütze oder Tuch auf dem Kopf unterwegs gewesen "und dann oben ohne, weil ich gesagt habe, ich möchte mutig sein, ich möchte anderen Leuten Mut zeigen und einfach nur ich selbst sein. Das hat mich alles tatsächlich auch vom Wesen her viel, viel stärker und selbstbewusster gemacht. Ich habe mich tatsächlich, wenn man so zurückblickt, eher hinter meinen Haaren sogar versteckt."
Die Ausprägung der Krankheit ist sehr unterschiedlich. Einige Betroffene erleben nur im Ohren- und Nackenbereich kahle Stellen (Alopecia Ophiasis), andere verlieren auch Wimpern, Augenbrauen und den Rest ihrer Körperbehaarung (Alopecia Universalis). Doch viele Menschen sind schon in jungen Jahren, oft schon im Kindesalter, vom diesem bislang unheilbaren Haarausfall betroffen.
Da keine Therapie bekannt ist, müssen die Betroffenen eigene Wege finden, mit dem Haarverlust umzugehen. Einige kaschieren ihre Glatze mit Perücken oder Tüchern, andere rasieren sich den Kopf, sobald die kahlen Stellen zu offensichtlich werden. Jada Pinkett Smith erzählte schon im Dezember beim "Red Table Talk" im US-Fernsehen, dass sie diesen radikalen Schritt bereits im Juli 2021 gewagt hätte – zusammen mit ihrer Tochter Willow.
Leonie Brachthäuser nimmt die Situation inzwischen mit Humor, anstatt sich hinter einer Perücke zu verstecken, die sich für sie nicht anfühlt wie sie selbst: "Da möchte ich lieber, dass die Leute mich mit Glatze sehen und denken: 'Cool. Krass, dass sie damit sehr offen umgeht' als 'Oh, was stimmt nicht mit der, hat sie eine Perücke auf.'" Man müsse die positiven Seiten sehen, scherzt sie: "Kein Bad Hair Day mehr, kein Shampoo und morgens länger schlafen."
Viele junge Menschen schreiben ihr. Sei es, weil sie sie für ihren Mut bewundern oder weil sie gerade erst ihre eigene Diagnose bekommen haben und sich fürchten. Brachthäusers Fazit: "Und ich möchte mich nicht verstecken und ich möchte lieber mutig sein und anderen Leuten, die in der gleichen Situation sind, auch Mut machen."
Auch für Kristina Rau ist ihre Alopecia heute die Normalität. Natürlich gebe es immer mal Blicke oder Getuschel – das liege aber auch an ihren zwei Kopftattoos. "Eins ist klar, man fällt auf. Ob man will oder nicht. Zu Beginn ist mir jeder einzelne komische Blick aufgefallen, mittlerweile merke ich es kaum mehr, wenn mich jemand anschaut", sagt die 31-jährige, die als stellvertretende Marketingleitung arbeitet. Ihr Umfeld habe sich längst daran gewöhnt. Auch im Job würde sie ihre Glatze nicht mehr verstecke.
Rau sagt: "Das schönste Kompliment für mich war, dass mein Mann mir meinen Heiratsantrag gemacht hat, als ich ungeschminkt (also: auch ohne Augenbrauen und Wimpern) und mit Glatze in Jogginghose auf der Couch saß. Es hat mir gezeigt, dass er mich genau so liebt wie ich bin."