"Typisch Ausländerkind!"
Diese abschätzigen Worte bekam Frida (Anm. der. Red. Name geändert) in ihrer Kindheit häufig zu hören. "In der Schule hieß es früher, dass hibbelige Kinder aus dem Süden stammen", erzählt Frida.
Die Pädagogin und Erziehungswissenschaftlerin wuchs mit ihren Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien in den 70ern in Deutschland auf. ADHS war damals noch kein Thema und die Kernsymptome der neurologischen Erkrankung – Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität – sah man als kulturell verankert.
Schon in jungen Jahren neigt Frida zu impulsiven Ausbrüchen, die sie nicht kontrollieren kann. Ihre Gefühle und Stimmungen schwanken schnell und stark. Wenn ihr etwas nicht passt, kann sie laut werden. Sehr laut. Sagt Dinge, die sie eigentlich gar nicht so meint.
Die Pädagogen sind sich einig: Ihre Impulsivität hängt mit ihrem südländischen Temperament zusammen. "Daran habe ich selbst lange geglaubt", sagt Frida. Um nicht als das "typische Ausländerkind" zu gelten, versucht sie, sich zusammenzureißen.
Leicht sei das nicht gewesen. Fridas Gehirn kann Impulse nicht richtig kontrollieren. Schuld daran sind die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin, die sich bei ihr im Ungleichgewicht befinden. Reize wie Geräusche, Düfte und Stimmungen nimmt sie viel intensiver wahr, und diese Reiz-Überflutung kann zur Überforderung führen. "Es ist keine Spinnerei: Ich sehe, wie sich der Raum verschiebt. In meiner Wahrnehmung läuft das so."
Doch lange wusste Frida nichts davon. Zum ersten Mal hört sie von der neurologischen Krankheit ADS im Pädagogikstudium. Da war Frida beinahe 30.
"Als ich mich genauer mit der biochemisch Dysbalance auseinandersetzte, schöpfte ich den Verdacht, betroffen zu sein", sagt Frida. "In Seminaren stellte ich fest, dass meine Impulsivität wohl nicht kulturell kodiert ist, sondern dass es sich vermutlich um eine genetische Disposition handelt."
Vor dieser Annahme kämpfte sich Frida durchs Leben, schlug viele Verzweigungen ein. Und musste deshalb viel Kritik einstecken.
"Ich wurde in einer Generation geboren, in der Ausprobieren als Bruch galt. Das Leben war früher sehr linear. Nach der Schule kam die Ausbildung. Danach arbeitete man meist bis zur Pensionierung im selben Beruf – oftmals sogar im selben Betrieb", sagt Frida. "Ich erlebte viele Brüche im Leben. Ich brach meine Lehre im Bereich Elektronik kurz vor den Abschlussprüfungen ab und hatte immer Mühe, Freundschaften lange zu halten."
Im Pädagogikstudium verändert sich im Leben von Frida vieles zum Positiven. "Endlich fand ich etwas, das mich nährte. Ich war unglaublich motiviert und engagiert." Plötzlich kann sich Frida konzentrieren. Dies liegt am sogenannten Hyperfokus, welcher die Reizüberflutungen stark ausblenden kann. Wenn Menschen mit AD(H)S etwas gefunden haben, das sie interessiert, tritt diese Fähigkeit häufig auf.
Obwohl sie im Studium den Verdacht schöpft, von ADS betroffen zu sein, schiebt sie eine Abklärung vor sich hin. "Ich fragte mich lange, ob sich eine Abklärung überhaupt lohnt", so Frida. Ihren Beruf als Lehrerin kann sie gut ausüben, dennoch ist sie auf Kooperation angewiesen. Nebengeräusche müssen unterbunden werden, Handys sind verboten.
Im Laufe der Zeit wird Frida immer dünnhäutiger und kann ihre Impulse immer schlechter kontrollieren. "Bis zu einem gewissen Punkt kann ich meinen Impulsdruck aushalten, doch wenn es zu viel wird, dann fliegen einem die Impulse um die Ohren", sagt Frida.
Dann habe sie keine Kontrolle mehr darüber, was sie sage – und rede auch Gossensprache. Kein Vorteil in einem pädagogischen Beruf. "Gegen außen bin ich nicht hyperaktiv, nach innen hingegen schon. Ich kann sehr wütend werden."
Schließlich lässt sich Frida nach einigen Jahren als Pädagogin abklären. Diagnose: ADS. Wie vermutet.
Wir treffen Frida in einem Café in Basel. Seit rund einer halben Stunde unterhalten wir uns. Um uns herum herrscht ein Stimmenwirrwarr, die Kaffeemaschine brummt, Geschirr klappert, ein Kleinkind hämmert mit einer Faust auf den Tisch. Der 49-Jährigen wird es zu viel. "Was dort hinten geschieht, höre ich zehnmal stärker als du. Es macht mich inzwischen verrückt", sagt Frida. Wir wechseln den Platz.
Auf die Frage, warum sie sich abklären ließ, sagt sie: "Einerseits brauchte ich für eine Therapie eine Diagnose. Andererseits berufen sich wissenschaftliche Evidenzen auf Zahlen. Wenn sich die Menschen nicht abklären lassen, kann keine Prävalenz ermittelt werden."
Genaue Zahlen werden in der Schweiz, wo Frida nun lebt, nicht erhoben. Schätzungen zufolge sind in der Bevölkerung rund zwei bis fünf Prozent von AD(H)S betroffen. Meistens haben Betroffene eine genetische Veranlagung. Die biochemisch Dysbalance wächst sich nach heutigem wissenschaftlichem Stand nicht heraus.
Die Wahrnehmung sei bei ADHS-Betroffenen störanfällig, sagt Frida. Daraus resultieren Herausforderungen, wie etwa ständiges Grübeln, starke Konzentrationsprobleme bis hin zu Brain Fog, hohe Ablenkbarkeit sowie Schwierigkeiten, Aufgaben zu priorisieren. "Ich verfüge über eine große Festplatte, doch irgendwann ist der Prozessor voll", sagt Frida.
Zur Behandlung von AD(H)S werden vor allem Arzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat (zum Beispiel Ritalin) eingesetzt. Auch Frida versucht ihre Impulsivität durch Medikation besser in den Griff zu bekommen. Sie steht den Stimulanzien offen gegenüber, allerdings verträgt sie die Medikamente nicht. "Mein Alltag wurde noch anstrengender. Gesprächen konnte ich kaum mehr folgen. Ich bin nicht die Person, die Energie mit anderen Leuten tankt."
Ohnehin fällt es ihr schwer, sich länger auf ein Gespräch zu konzentrieren. Lesen kann Frida seit 15 Jahren kaum noch. "Wenn ich einen längeren Bericht lesen möchte, brauche ich dafür mindestens fünf Anläufe. Bücher liegen gar nicht mehr drin", so Frida. Reden hingegen fällt ihr gar nicht schwer.
Frida spricht seit fast drei Stunden ununterbrochen. "Ich höre nie auf zu erzählen", scherzt Frida. Ungebremster Redeschwall ist ein typisches Anzeichen von AD(H)S.
Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin gab sie früher Tanzkurse. Abends war sie ständig unterwegs. "Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich mehr Ruhe benötige." Sie krempelte ihr Leben um, nahm sich mehr Zeit für sich selbst. So fand sie einen Weg, wieder besser mit ihren Impulsen umzugehen. Geholfen hat ihr auch der offene Umgang, den sie als Pädagogin pflegte. Betroffenen stand sie beratend zur Seite.
Das macht sie noch heute.
"Ich unterstützte psychisch kranke Jugendliche, die ihre Lehre pausierten. Darunter waren auch viele AD(H)S-Betroffene, die krank wurden, weil sie sich nicht richtig aufgehoben fühlten", erzählt Frida. Weil sie dagegen etwas unternehmen wollte, entschied sie sich für eine Coaching- und Beratungsausbildung und entwickelte ein Konzept, das sich im Rahmen von AD(H)S-Coachings auf Betroffene anwenden lässt.
"Ich organisiere Stammtisch-Treffen für AD(H)S-Betroffene, damit sie einen wertschätzenden Umgang mit ihrer Diagnose entwickeln und sich gegenseitig austauschen können", so Frida. "In der Gesellschaft hat AD(H)S keinen Platz. Einen Raum für Neurodiversität gibt es nicht."
Ihr liege es am Herzen, einen Raum zu schaffen, in dem sich Betroffene gut aufgehoben fühlen und sich bewusst werden: Da draußen gibt es viele wie uns.