"Entweder bin ich ein Genie oder irgendwas läuft in meinem Gehirn falsch", war der erste Gedanke von Lydia Huth, als sie ihre Bachelorarbeit bestand. Denn sie schrieb die Arbeit innerhalb von drei Tagen, nachdem sie "drei Monate minus drei Tage die Wand angestarrt" hatte. Die Marburgerin, auf Instagram bekannt unter "lydiarhabarber", weiß heute auch, warum sie so zu kämpfen hatte: Sie erhielt diesen Mai eine ADHS-Diagnose. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung.
Bis es so weit kam, dauerte es jedoch. Den ersten Verdacht schob sie erst einmal beiseite. Erst als sie auf Instagram ein Meme der tollpatschigen Comic-Figur Sponge Bob sah, fiel ihr etwas auf:
Lydia ging zu einer Psychologin und diese bestätigte ihren Verdacht: ADHS. Plötzlich ergab vieles in ihrem Leben einen Sinn: Warum sie schon als Achtjährige in der Grundschule ständig abgelenkt war, warum sie es nicht schaffte, Abgabetermine einzuhalten, und warum sie sich dauernd wehtat: "Türgriffe sind meine Erzfeinde, genau wie Tischkanten", sagt sie lachend.
ADHS ist seit einiger Zeit ein großes Thema in den Sozialen Netzwerken. Viele junge Menschen posten, dass sie an ADHS leiden und teilen, manchmal falsche, Merkmale der Erkrankung für ihre Follower:innen. Oft ist nicht klar, ob die Nutzer:innen wirklich eine professionelle ADHS-Diagnose bekommen haben.
Denn sich selbst ADHS zu diagnostizieren, fällt nicht gerade schwer: Die Alarmsignale sind unter anderem Konzentrationsschwierigkeit, Impulsivität und Hyperaktivität. Vergesslichkeit oder Tollpatschigkeit sind beispielsweise Symptome. Dies kann aber auch auf komplett andere Erkrankungen hindeuten – oder einfach darauf, dass man schlicht und einfach gelangweilt ist, nicht richtig hinschaut oder hinhört.
So ist ein professioneller Test zur ADHS-Diagnose unabdingbar, wie Andreas Jähne gegenüber watson sagt. Er ist Psychotherapeut und Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura. "Konzentrations- oder Aufmerksamkeitsstörung als Kernsymptom hat man bei verschiedenen Erkrankungen und das muss man ausschließen."
Konzentrationsstörungen können auch bei Menschen mit Depressionen, Entwicklungsstörungen oder bipolaren Störungen auftreten, auch bei Demenzkranken. "Das ist natürlich dramatisch, wenn die sich Ritalin zuführen", sagt Jähne. "Solche Dinge müssten komplett anders als ADHS behandelt werden."
Diagnostiziert wird AHDS von Psychologen, Psychosomatikern und psychiatrischen Ärzten anhand von Fragebögen und strukturellen Interviews. Das Problem dabei: Die Wartelisten bei Psychologen sind voll, Betroffene müssen somit oft lange warten, bis sie einen Termin bekommen.
Die Anzahl der ADHS-Diagnosen von Erwachsenen hat sich von 2008 auf 2018 nahezu verdreifacht. Jähne führt dies auf zwei Faktoren zurück: "Die Ärzte sind sensibilisierter als noch vor 20 Jahren. Es gab eine große Diskussion über ADHS im Erwachsenenalter und das Bewusstsein hat sich jetzt auch in Fachkreisen durchgesetzt."
Früher war ADHS im Bewusstsein der Gesellschaft etwas, das, als "Zappelphilipp-Syndrom" nur kleine Kinder betraf und vor allem Jungs. Dabei sind Mädchen und Frauen genauso häufig betroffen.
Auch Lydia hatte schon als Kind Symptome – unerkannt.
Heutzutage gibt es ein stärkeres Bewusstsein für das Problem: "Die Diagnose ist jetzt standardisiert und strukturiert. Früher gab es eine große Diskussion unter den Ärzten: 'Gibt es das wirklich oder ist das nur alles eingebildet?'" Denn es ist es naheliegend, ADHS als bequeme Erklärung zu nutzen.
Wo der rasante Anstieg an ADHS-Erkrankungen herrührt, darüber herrscht aber auch in Fachkreisen noch Unsicherheit:
Nicht jeder, der Probleme mit seiner Aufmerksamkeit hat, ist gleich krank. "Jeder Mensch hat eine Konzentrationsspanne: ob das eine halbe Stunde ist oder eine Stunde, das ist individuell verschieden", sagt Jähne. Besser sei es, erst einmal zu überlegen, ob es logische Ursachen gebe für die verminderte Konzentration:
Die Behandlung der ADHS-Störung ist vielseitig und muss nicht gleich mit Medikamenten erfolgen. Auch psychologische Übungen werden angewendet. Psychopharmaka wie Ritalin werden nur im Notfall verschrieben. Doch gerade Ritalin ist hoch begehrt bei Menschen, die ihre Leistung damit steigern wollen.
Jähne warnt davor, das Medikament für "Neuro-Doping" zu missbrauchen: "Ritalin ist kein Medikament, was man nehmen kann, um sich zu einer langweiligen Aufgabe zu zwingen. Beim ADHS-Patienten kann es maximal die Einschränkungen aufheben bis zum Normalzustand, aber nicht darüber hinaus." Ritalin kann außerdem Bluthochdruck und Herzinfarkte verursachen.
Darüber hinaus fallen Stimulanzien wie Ritalin unter das Betäubungsmittelgesetz. Diese werden auf eine Stufe gesetzt wie Opium, "weil es tatsächlich Missbrauchspotenzial hat von Leuten, die ADHS nicht haben". Darum ist Ritalin ein streng reguliertes Medikament, das nur Ärzte mit bestimmter Zulassung verschreiben dürfen.
Wer sich also illegal Ritalin verschafft oder es weitergibt, begeht eine Straftat: "Das ist Handel mit Betäubungsmitteln, ebenso wie Heroinhandel", warnt Jähne.
Es gibt schließlich auch legale Wege, um seine Aufmerksamkeit zu verbessern. Eigentlich lernen wir bereits als Kind, wie man sich konzentriert. Wer dies wieder verlernt hat, kann seine Aufmerksamkeit trainieren:
Von Multitasking hält der Psychologe übrigens überhaupt nichts. Er rät, am besten "nicht fünf Dinge gleichzeitig zu machen".
Eine Diagnose jedenfalls schafft für Betroffene oft große Erleichterung. Auch Lydia Huth ist inzwischen sanfter zu sich – auch wenn die Diagnose eine leichte Identitätskrise verursachte: "Manchmal frage ich mich: Bin ich wirklich so extrovertiert, kreativ und wuselig oder ist es einfach nur die Chemikalienkonzentration in meinem Hirn durch ADHS?"
Von Selbstdiagnosen hält sie nichts, doch sie ist dankbar, dass sie über Social Media auf ihr Problem aufmerksam wurde. Inzwischen weiß sie: