Wenn man mit mir verabredet ist, komme ich sehr wahrscheinlich zu spät. Manchmal sogar gar nicht. Ich vergesse Geburtstage, melde mich selten aus dem Blauen und erkundige mich nicht ohne Anlass nach dem Befinden meiner Mitmenschen. Nicht, weil ich mich nur um mich selbst drehe. Ich vergesse Dinge, soziale Interaktion verlangt mir viel ab. Es fühlt sich an, als würde ich im Kopf den ganzen Tag Memory spielen und manchmal geht eben ein Teil verloren.
Es hilft auch nicht, sich einen Kalender zuzulegen. Dann vergesse ich eben, mir Termine aufzuschreiben. Genaugenommen ist es dann sogar schlimmer, weil ich mich auf ein Stück Papier verlasse. Wenn ich gezwungen bin, alles im Kopf zu behalten, besteht immerhin die Chance, dass ich es mit all meiner Mühe und Kraft hinbekomme, nichts zu versäumen.
Ich brauche Zeit allein, um meine Batterien aufzuladen. Manchmal nur Stunden, manchmal einige Tage und wenn die Welt besonders anstrengend wird, verkrieche ich mich gleich für mehrere Wochen. Keine guten Vorzeichen, um nachhaltige Freundschaften zu knüpfen und sie zu pflegen. Oft wirkt es vermutlich, als würden mich andere Leute gar nicht interessieren, ich erscheine selbstzentriert und unaufmerksam. Trotzdem habe ich Freundschaften, die seit der Schulzeit andauern, meine beste Freundin kenne ich seit dem Kindergarten – bald sind es 30 Jahre. Das liegt sicher auch daran, dass sich die meisten an meine Eigenarten gewöhnt haben. Und auch daran, dass ich mir immer wieder Mühe gebe, an meinen Problemen zu arbeiten.
Trotzdem habe ich letzte Woche einfach vergessen, dass ich verabredet war. "Ich bin gleich da und habe Bier dabei", schrieb mir ein Freund per Whatsapp, während ich gerade dabei war, Abendessen zu machen. Natürlich, wir sind verabredet, fiel mir dann ein. Und zwar am anderen Ende der Stadt. "Es tut mir so leid, ich habe es einfach vergessen", antwortete ich und versprach, dass wir das Treffen nachholen.
Früher kam so etwas regelmäßig vor, mittlerweile kaum noch. Ich habe dann meist Ausflüchte gesucht, mir Ausreden einfallen lassen, irgendwelche dringlichen Gründe, die mich am Einhalten der Verabredung hindern. Furchtbar, weil ich Lügen überhaupt nicht mag. Aber zugeben, dass ich es einfach verschwitzt habe? Undenkbar. Natürlich merken Freunde das trotzdem, insbesondere, weil ich nicht gut darin bin, mir Dinge aus den Fingern zu saugen. Ehrlichkeit währt am längsten, habe ich gelernt. Jedem kann mal etwas dazwischenkommen, man kann Dinge einfach vergessen und wenn es die Ausnahme bleibt, nimmt es ein echter Freund nicht krumm.
Häufig wird angenommen, dass Autisten gar keinen Wert auf Freundschaften legen. Das gängige Klischee ist nun einmal, dass wir am allerliebsten wie Einsiedler leben, fernab der Welt und aller Mitmenschen, aber ich glaube, das ist nur selten der Fall. Die meisten Autisten brauchen Kontakte, genau wie neurotypische Menschen auch. Vielleicht brauchen wir sie weniger und sicher benötigen wir mehr Zeit, um uns zu erholen. Aber Aufmerksamkeit und Zuneigung sind zutiefst menschliche Bedürfnisse.
Meine Freunde sind mir wichtig, ich verbringe gern Zeit mit ihnen. Halt nicht so viel und so oft wie andere Leute es sich wünschen. Neue Freundschaften zu knüpfen fällt mir wahnsinnig schwer. Ich erkenne nicht, ob mich jemand wirklich mag oder nur höflich ist. Es fällt mir schwer einzuordnen, wie jemand mich findet und oft habe ich vor fremden Menschen zu viel Angst, um mit ihnen ernsthaft ins Gespräch zu kommen. Darum ist es vielleicht sogar ganz naheliegend, dass ich die meisten meiner Freunde schon seit vielen Jahren kenne.
Das Kennenlernen von Menschen wird mir immer ein absolutes Rätsel bleiben. Ich weiß nicht einmal genau, wie ich meine Freunde finden konnte. Vermutlich haben sie vielmehr mich gefunden. Ich gehe auf niemanden zu und spreche ihn an. In meinem gesamten Studium habe ich genau eine Freundschaft geschlossen. In den Seminaren und zwischen den Veranstaltungen schienen sich von einem auf den anderen Tag alle zu kennen und mir ist bis heute schleierhaft, woher.
So ist es auch mit Freundeskreisen. Ich hatte nicht einmal in der Schule einen Freundeskreis. Klar, ich hatte immer Freunde, aber die kennen sich nicht. Sie begegnen sich maximal einmal im Jahr, an meinem Geburtstag, sprechen höflich miteinander und dann hören und sehen sie sich nicht, bis ich wieder ein Jahr älter werde. Sie haben nichts miteinander gemein. Ihre einzige Gemeinsamkeit bin ich, und ich kann mir gut vorstellen, dass dieses Gesprächsthema auf Dauer nicht abendfüllend ist.
Je älter ich werde, desto zufriedener bin ich damit, wie es ist. Und desto normaler ist es, keinen riesigen Freundeskreis zu haben. Die Prioritäten ändern sich, man arbeitet, manche gründen eine Familie, verbringen viel Zeit mit ihren Partnern. Es ist wohl die natürlichste Entwicklung der Welt, dass Freundschaften weniger, dafür aber umso inniger werden.
Nächsten Monat habe ich Geburtstag, sofern es dann in Berlin wieder möglich ist, werden sich meine Freunde dann wiedersehen, höflich beieinandersitzen, sich nach dem Befinden erkundigen und sich dann bis zum nächsten Jahr verabschieden. Und irgendwie finde ich es sogar ganz schön so.