Clarissa Vogel ist studierte Sozialpädagogin, hat einen Hund und einen Freund, mit dem sie zusammen wohnt. Sie führt ein erwachsenes Leben. Doch manchmal, wenn es regnet, und die Luft nach Kiefern riecht, dann ist sie wieder drei Jahre alt und hat unbändige Angst: Denn Kiefern standen auch vor dem Fenster ihres Stiefopas. Und der missbrauchte sie zehn Jahre lang, zusammen mit seinen Freunden.
Mehrmals die Woche wurde sie zu Sex gezwungen, während ihr Stiefopa Videos aufnahm. Das blinkende rote Lämpchen der Kamera hat sich in ihren Kopf gefressen und lässt sie bis heute nicht los. Doch noch belastender ist das Wissen, dass diese Aufnahmen weiter existieren, sagt Clarissa. Sie weiß nur nicht, wo.
Über ihre Erfahrungen hat Clarissa ein Buch geschrieben: "Manchmal konnte ich vor Angst nicht atmen". Bei watson erzählt die heute 34-Jährige aus Nordrhein-Westfalen, wie es sich anfühlt, wenn Kinderpornos von einem kursieren und warum sie die niemals selbst anschauen würde.
Als Kind musste ich ein- bis zweimal die Woche zu meinen Großeltern. Eigentlich durfte ich dort nicht alleine sein. Meine Mutter traute meinem Stiefopa nie über den Weg und bat meinen Vater daher, immer anwesend zu sein, wenn sie sich nicht kümmern konnte. Sie war chronisch krank und musste oft zum Arzt, arbeitete außerdem Nachtschichten. Mein Vater wiederum war Alkoholiker und setzte mich gerne dort ab, damit er in die Kneipe gehen konnte. Er wollte seine Freizeit haben und log meine Mutter deswegen an.
So war ich oft alleine bei meinen Großeltern. Manchmal sogar mehrere Wochen am Stück, wenn meine Mutter in die Klinik musste. Mein Stiefopa nahm mich zu sich ins Bett und wollte "kuscheln", sich von mir befriedigen lassen. Er sagte: "Wenn du mich lieb hast, dann machst du diese Sachen." Es hat sich immer falsch angefühlt und es war nie schön, aber ich habe damals gedacht, dass jeder Opa das mit seinem Enkelkind macht. Es war für mich komplett normal. Meine Oma hörte ich im Hintergrund in der Küche hantieren, aber sie griff nie ein. Einmal sprach ich sie sogar darauf an, doch sie sagte nur: "Hörst du, wenn du den Opa liebhast, dann machst du, was er gern hat, in Ordnung?!"
Mein Stiefopa holte bald auch Männer dazu. Insgesamt waren es acht. Sie legten ihre Ehering ab, bevor sie zu mir ins Bett kamen und mein Stiefopa schaltete eine Videokamera ein. Ich könnte die Männer nicht mehr komplett beschrieben, aber Details sind bis heute wie eingebrannt: Einer hatte stechend blaue Augen. Bis heute muss ich mich abwenden, wenn jemand sehr helle Augen hat. Sie missbrauchten mich.
Damit ich nichts erzählte, schnitt mein Stiefopa mir mit einem Skalpell einen Ritz in den Rücken und erzählte danach, er habe mir soeben einen Chip implantiert, mit dem er Tag und Nacht hören könnte, was ich sage. Ich war ein Kind und das war für mich schlüssig. Also schwieg ich. Auch sonst hatte er Spaß an Misshandlungen. Er quetschte und verprügelte mich, drückte Zigaretten auf mir aus.
Wenn die Täter mit mir fertig waren, ging mein Stiefopa los zu seinen zwei Videorecordern und überspielte die Kassette. Er gab sie den anderen mit, wenn sie gingen. Ich habe nie mitbekommen, dass er im Gegenzug Geld dafür bekam, aber heute denke ich schon, dass es so war. Mein Stiefopa sagte: "Es ist unser Geheimnis, dass du ein richtiger Filmstar bist. Darauf kannst du mächtig stolz sein."
Das Surren der Kamera und die rote, blinkende Lampe werde ich nie vergessen. Wenn ich heute in einem dunklen Raum aufwache und mich erstmal im Halbschlaf orientieren muss, wo ich eigentlich bin, höre ich dieses surrende Geräusch, als wäre es direkt neben mir. Dann erwache ich mit Angst und bin mir oft kurz nicht mehr sicher, ob ich noch bei meinem Stiefopa im Bett bin. Deshalb schlafe ich immer mit Nachtlicht.
Wenn ich heute höre, dass Kinderschänder auffliegen, wie gerade jetzt in NRW, reißt es alte Wunden auf, aber ich weiß auch: Es ist jetzt für die Kinder vorbei, sie bekommen endlich Hilfe! Kinder können sich nicht selbst befreien, sie sind auf ihr Umfeld angewiesen. Bei mir hätten damals viele Leute eingreifen können und es ist nicht geschehen. Eine Sportlehrerin bemerkte meine blauen Flecke, meine Oma wusste Bescheid, mein Vater sicher auch. Doch bei mir endete alles erst, als mein Stiefopa starb.
Das war einen Monat vor meinem dreizehnten Geburtstag. Es war ein Befreiungsschlag! Ab dem Moment, als mir klar wurde, dass mein Leiden nun ein Ende hat, lebte ich zum ersten Mal unbeschwert, zumindest eine Weile. Drei Jahre später starb auch meine Oma. Nach der Wohnungsauflösung sagte mein Vater, er habe "Videobänder gefunden und sie vernichtet". So richtig will er aber bis heute nicht eingestehen, was mir wiederfahren ist.
Das Schlimme an den Aufnahmen meines Missbrauchs ist: Es lässt mich nicht komplett abschließen. Ich habe weiter das Gefühl, diese Vergangenheit ist noch aktiv, sie wird weiter angesehen und ich bin hilflos, kann es nicht unterbinden. Das ist ein Gefühl, als würde man innerlich erdrückt.
Damals, in den 90ern, wurden die Videokassetten einfach von Hand zu Hand gereicht. Sie stehen vermutlich bei den Tätern zu Hause. Es könnte natürlich gut sein, dass sie inzwischen digitalisiert wurden und auch im Darknet kursieren. Und wir alle wissen: Was einmal im Internet ist, lässt sich nie mehr löschen. Ich habe nie Anzeige erstattet, auch weil ich nicht weiß, wer die Täter sind und gerade an einer Freundin gesehen habe, wie hart es für Opfer ist, Gerichtsverfahren durchzustehen. Sie musste all ihre alten Traumata nochmal durchleben, wurde angezweifelt und musste sich dem Täter stellen. Das könnte ich nicht ertragen.
Natürlich könnte einer meiner Täter auffliegen, die Videos bei ihm durch die Polizei gefunden werden. Dann würde ich zwar aussagen, aber diese Vorstellung macht mir wirklich sehr große Angst. Niemals würde ich die Filme selbst anschauen. Es gibt darauf sicher Dinge, die ich verdrängt habe und es ist schwierig genug, mit dem zu leben, an was ich mich erinnere.
Aus Angst, meine Täter zu treffen, habe ich letztlich sogar meine Heimat verlassen. Manchmal habe ich Rasierwasser gerochen, dass mich an die Zeit erinnerte und mir wurde schlagartig ganz anders. Ich habe auch einmal einen Mann im Bus gesehen, der meinem Stiefopa so ähnlich sag, dass ich panisch ausgestiegen bin, dabei lebt er ja gar nicht mehr. Ich habe dann sehr realistische Flashbacks, werde in die Vergangenheit zurückgesogen und bin plötzlich wieder ein kleines Kind. Das unter Kontrolle zu bekommen ist derzeit noch einer der wichtigsten Punkte in meiner Therapie.
Doch es geht voran: Meine Albträume werden langsam weniger. Ich ordne meine Flashbacks und habe seit vier Jahren einen Blog, über den ich auch mit anderen Betroffenen in Kontakt kam. Mein Opa hat immer gesagt: "Du wirst nie wieder in deinem Leben glücklich sein können" und oft, wenn ich mit meinem Freund zusammensitze und wir einen schönen Moment erleben, verfolgt mich dieser Satz. Aber ich bin so weit gekommen, nun will ich meine vollgeladene Gefühlskiste endlich zuschließen. Mein Stiefopa soll nicht Recht behalten: Ich will und werde glücklich sein.
Protokoll: Julia Dombrowsky