Bevor ich mit dem Schreiben mein Geld verdiente, jobbte ich in anderen Berufen. Einer davon: Glühweinverkäuferin auf einem prominenten Berliner Weihnachtsmarkt. Seitdem teile ich mein kleines Expertenwissen mit Bekannten, die es interessiert, was hinter den Bretterbuden abgeht.
Geht einem "All I want for Christmas" nicht bald auf die Nerven? Und warum wollen die fast fünf Euro Pfand? Alles Fragen, die ich schon gehört habe. Hier kommen ehrliche Antworten.
Das Pfand ist so hoch, weil Weihnachtsmarkt-Besucher:innen klauen wie die Raben. Kein Witz! Ich habe noch nie so viele sonst vermutlich gesetzestreue Bürger:innen gesehen, die versucht haben, rotweinbefleckte und klebrige Tassen unauffällig in ihren Daunenmänteln und Handtaschen verschwinden zu lassen, wie damals auf dem Weihnachtsmarkt. Ich kann mir diese plötzlich aufkommende, kriminelle Energie bis heute nicht erklären und dazu nur eines sagen: Die Verkäufer merken das, Leute!
Ich weiß nicht, wie oft ich amateurhaften Räubern über die Köpfe der Masse hinweg zugerufen habe: "Ich kann ihnen auch einfach eine Saubere mitgeben!" Dann kamen sie rotohrig angestapft und sagten: "Ach, das wäre schön ..." Denn: Die 4 Euro (die damals das Pfand betrug) ersetzen quasi den Kaufpreis. Und weil unsere Tassen als Sammlerstücke galten und es jedes Jahr ein neues Design gab, war man darauf vorbereitet.
Da sich auf Weihnachtsmärkten keine Schlange, sondern ein wabernder Pulk auf allen Seiten der Glühweinbude bildet, versuchen Menschen auf das Recht des Lauteren zu setzen.
Ich muss zugeben, dass ich rufende, winkende Leute und auch die passiv-aggressiven "Stöhner" besonders lange habe warten lassen. Ein Lächeln hingegen beförderte Kund:innen ganz weit nach vorne! Schlechtes Benehmen muss schließlich nicht auch noch belohnt werden.
Dasselbe gilt für Leute, die permanent aufs Handy starren oder während der Bestellung weitertelefonieren. Es ist unhöflich und nervig, weil die Handy-Nutzer:innen im Anschluss oft minutenlang überlegen, was sie nochmal haben wollten, während alle Anderen auf sie warten müssen. Wer die Erfahrung ein paar Mal gemacht hat, gibt anderen den Vorzug.
Wir trugen Strumpfhosen unter den Jeans, Pullis unter Hoodies, darüber dicke Westen vom Weihnachtsmarkt und trotzdem war die elende Friererei Gesprächsthema Nummer eins. Wenn nicht gerade Stoßzeit war, watschelten wir wie Pinguine vor klitzekleinen Heizstrahlern unter dem Tresen auf und ab, die eigentlich auch keine Hilfe waren.
Die Füße waren Eisblöcke, die Hände dafür verbrannt. Denn Glühwein kommt quasi kochend aus dem Zapfhahn, damit er den rechten Geschmack und die Temperatur erreicht. Wer in der Eile (und eilig war es oft) kurz mal nach einem Kunden schaute und dabei die Hand nur einen Millimeter unter den Strahl geriet, verbrühte sich die Finger auf überaus schmerzhafte Weise.
Daher macht man auch einen großen Bogen um Kolleg:innen, die gerade am Zapfhahn stehen. Überhaupt: Anrempeln und verschütten ist in einer klitzekleinen Bude voll mit klebrigem, heißem Wein nicht wünschenswert, aber es passiert. Ich roch die gesamte Adventszeit wie eine wandelnde Feuerzangenbowle.
Das Weihnachtsgedudel im Hintergrund stellen sich dafür alle schlimmer vor, als es ist. Ich hörte es schon nach zwei Stunden nicht mehr. Andererseits habe ich zuvor auch schon in Disneyland Paris gearbeitet und bin daher vielleicht besonders abgestumpft.
Das Gehalt kratzte am Mindestlohn und Trinkgeld gab es selten, denn wenn das Pfand schon teuer ist, werden Leute geizig. Der Chef stand zwar unter Druck, waren die Weihnachtswochen doch seine einzige Einnahmequelle im Jahr, aber er ließ uns freie Hand. So durften wir zum Beispiel so viel Glühwein trinken, wie wir wollten – auch während der Arbeitszeit.
Und das taten wir. Wenn eine Bestellung zurückging, trank einer von uns sie. So kam man in kürzester Zeit auf sicher fünf Glühweine am Abend. Und wie das so ist: Solange man auf der Arbeit geschäftig ist, fällt einem der leichte Suff nicht auf. Aber mannomann, waren das wackelige S-Bahn-Fahrten nach Hause. Ich glaube nicht, dass wir die einzige Glühweinbude waren, die sich selbst himmelhochjauchzend ins Heißgetränk gestürzt hat...
Gab es unter der Weihnachtsmarkt-Crew amouröse Verwicklungen? Allerdings. Und man tat gut daran, als Neuankömmling das Gewirr aus Liebes-Interessen schnellstmöglichst zu durchdringen, um nicht einen Eklat loszutreten. Denn ähnlich wie bei Sommerromanzen begegnen sich hier Menschen saisonal bedingt wieder, die noch offene Rechnungen zu begleichen haben.
Ich hatte zum Beispiel den Fehler begangen, einem Kollegen im Eifer eines Witzes die Hand auf die Schulter zu legen. Danach hat mir seine Ex-Freundin vom Stand gegenüber nie wieder mit gereinigten Tassen ausgeholfen. Muss man wissen.
Noch schlimmer, wenn Buden von Ehepaaren betrieben wurden. Kam es zum Streit, saßen diese Paare wochenlang nur Meter voneinander entfernt und schwiegen giftig. Das war maximal unangenehm. "Julia, hast du mal ein Handyladekabel?", "Nein Bernd, hat Brigitte keins?", "Die frage ich nicht. Wir streiten..."
Wie sauber sind die Tassen wirklich? Aus meiner Erfahrung würde ich sagen: Ausreichend. Zumindest haben wir ebenfalls aus dem Weihnachtsmarkt-Geschirr getrunken und uns dabei über all die Wochen nie Herpes oder Magen-Darm eingefangen.
Die Tassen werden nicht per Hand gewaschen, sondern landen palettenweise in einem kühlschrankgroßen Geschirrspüler. Wie in der Gastro üblich werden übrigens auch Weihnachtsbuden jeden Abend geschrubbt und gereinigt.
Neun von zehn Besucher:innen wollten Glühwein, jeder zweite davon mit Schuss. Wobei dem IMMER eine Erklärung folgte, à la: "Wenn schon, denn schon" oder "Aber nur, weil mir so kalt ist" oder "Heute gönne ich mir mal". Kinderpunsch wurde (damals) tatsächlich nur von Kindern bestellt.
Ein weiteres Klischee, das sich bestätigte: Nur Frauen bestellten Lumumba. Mich selbst eingeschlossen. Warum Männer das köstliche Heißgetränk mit Kakao nicht möchten, muss mir mal jemand erklären. Haben die keinen Sinn für einen ausgewachsenen Alkohol-Zuckerrausch?
Dann gab es die "Experten": Männer Mitte Vierzig, die mich zum Wein ausfragten. Es nervte. Zum einen ist man als saisonale Arbeitskraft kein Sommelier, zum anderen brachten ihre darauf garantiert folgenden Vorträge die Arbeit vollständig zum Erliegen. Um es kurz zu machen: Ein knackevoller Weihnachtsmarkt ist nicht der Ort, um sich über die Vorteile bestimmter Anbaugebiete und Rebsorten zu unterhalten.
Von einer schnoddrigen Grandezza umgeben (und daher meine Lieblingskunden) waren aber die Seniorinnen, besonders die steinalten. Sie kamen meist in Dreier-Gruppen, zupften ihre Handschuhe aus und bestellten ohne Umschweife: "Grog." Den Tee mit Rum tranken sie in wenigen Schlücken. Dann einen zweiten und dritten. Zuletzt wurden die Handschuhe wieder übergestreift, die Tassen zurückgebracht ("Danke. Und frohe Weihnachten, Mädchen") und so schritten diese Berliner Damen wieder in die Nacht hinaus, schnurgerade und gelassen, wie die unverwüstlichsten Weihnachtsengel der Welt.
Hinweis der Redaktion: Diesen Artikel haben wir erstmals an Weihnachten 2022 veröffentlicht. Da er besonders beliebt war, haben wir ihn wo nötig aktualisiert und jetzt erneut publiziert. Viel Spaß damit. Und natürlich: schöne Weihnachtszeit!