Familie steht im besten Fall für Zusammenhalt und Verlässlichkeit. Allerdings kann das auch anders sein: Manche Menschen fühlen sich in der Nähe ihrer Verwandten klein, verletzt oder schlichtweg nicht akzeptiert. In diesen Fällen können die sogenannten Familienbande sich erdrückend anfühlen.
Auch von der Gesellschaft wird oftmals suggeriert, Familie sei das Wichtigste: Aber wie viel muss man aushalten – nur weil es Familie ist? Wenn man merkt, dass der Preis für den Familienfrieden das eigene seelische Wohl ist?
Michael Nast, bin ich herzlos, wenn ich den Kontakt zu Verwandten abbreche?
Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie viele betonen, wie kostbar die Familie ist, sich aber vollkommen anders verhalten. Die meisten Familien sind von unzähligen Kränkungen, Demütigungen oder Dramen durchzogen. Ich kenne nicht eine Familie, in der es keine Probleme gibt. Immer ist irgendwas – und viele haben jetzt sicherlich eine dieser Situationen vor Augen.
Ein Freund hat mir mal erzählt, das läge daran, dass Familienmitglieder einfach mehr Möglichkeiten hätten, einander Verletzungen zuzufügen. Sie sind einander ausgesetzt, weil man durch die Familie verbunden ist. Man muss sich praktisch ertragen. Ich finde nicht, dass man das muss. Ich kann das ja auch mal ganz klar sagen: Es gibt Verwandte, von denen habe ich mich ganz bewusst zurückgezogen.
Es war das Ende eines Prozesses, in dem ich etwas verstanden habe: Familie bedeutet nicht, dass ich ihr mein geistiges oder emotionales Wohlbefinden konsequent opfern muss. Mit anderen in Beziehung zu treten, das ist ein Grundbedürfnis, von dem die seelische Gesundheit des Menschen abhängt. Darum suche ich mir ganz genau aus, mit wem ich in Beziehung trete.
Es ist schon wahr, Familie ist das Wichtigste. Es gibt für mich jedoch einen großen Unterschied zwischen Verwandten und Familie. Verwandt ist man, aber Familie entsteht. Aus Vertrauen, Wertschätzung und Zeit. Familie sind für mich Menschen, die sich auch so verhalten. In deren Gegenwart ich eine Person bin, die ich mag. Es ist mir egal, ob ich mit ihnen verwandt bin – oder eben nicht.
Aber wenn uns doch so klar ist, dass die Familie einer der kostbarsten Bereich des Lebens ist, warum behandeln wir sie dann nicht so? Ich glaube, das ist nur ein Aspekt eines universellen Problems. Wenn Menschen zusammenkommen, ist das immer mit Konflikten verbunden. Die eigentliche Frage lautet, wie wir mit Konflikten umgehen.
Ich kenne nicht wenige, die sich dagegen entscheiden, ihre Konflikte konstruktiv zu lösen, auch wenn sie darunter leiden. Sie wollen ihre Meinung durchsetzen, sie interessiert die Perspektive des anderen auch gar nicht. Sie sehen nur die eigenen Verletzungen, aber übersehen die Kränkungen, die sie anderen zufügen. Und sie sehen die Lösung eines Konflikts ausschließlich darin, dass andere sich ändern. Man selbst hat ja nie etwas falsch gemacht.
Man muss dazu sagen, dass wir uns ja nicht bewusst dafür entscheiden, auf diese Art mit Konflikten umzugehen. Es wurde uns nicht beigebracht. Die meisten haben nie gelernt, gesund miteinander und mit sich selbst umzugehen, einander zuzuhören oder gesund zu kommunizieren. Diese Defizite muss man sich aber erst einmal eingestehen. Wir brauchen eine Fortbildung. Denn mit diesen Fähigkeiten würden wir die kostbarsten Bereiche des Lebens auch so behandeln.
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