Über mentale Gesundheit sprechen junge Menschen heute so offen wie keine Generation zuvor. Dennoch kämpfen auch sie immer noch gegen alte Vorurteile an, müssen sich kritische Fragen gefallen lassen. Oftmals heißt es von den Älteren beispielsweise, die Gen Z sei zu sensibel.
Wer ernste mentale Erkrankungen hat oder Traumatisches erlebte, sollte zur Therapie. Das ist mittlerweile Konsens. Aber was, wenn man sich nicht so sicher ist: Ist das (nur) eine schlechte Phase, die man durchmacht, oder schon eine Depression? Wann ist eine Psychotherapie wirklich notwendig, wann noch nicht? Ist es okay, sich Hilfe zu suchen, obwohl es vermeintlich keinen richtig konkreten, offensichtlichen Grund gibt?
Michael Nast, bin ich zu empfindlich, wenn ich eine Therapie mache?
Es gibt nicht wenige, die gerade den jüngeren Generationen vorwerfen, sie wären viel zu empfindlich geworden. "Die sollen sich mal nicht so haben", sagen sie. "Heute rennen alle sofort zur Therapie", sagen sie. Früher hätte man einfach die Zähne zusammengebissen und weitergemacht.
Sie übersehen allerdings, dass genau das der Grund ist, warum unsere Gesellschaft inzwischen in einem Zustand ist, dass so viele eine Therapie nötig haben.
Man muss es ganz klar so sagen: Durch diese Haltung, die sich durch unzählige Familiengeschichten zieht, stehen wir heute dort, wo wir sind. Obwohl unsere Großeltern durch einen Krieg traumatisiert wurden, obwohl Kinder die Scheidung ihrer Eltern nie aufgearbeitet haben, obwohl man eine unglückliche Kindheit hatte, hat man die Zähne zusammengebissen und weitergemacht.
Seit Generationen kultivieren wir eine Verdrängungskultur.
Und wer das als Vorteil sieht, der hat etwas ganz Fundamentales nicht verstanden: Auch wenn man zugefügte Verletzungen der Vergangenheit ignoriert, werden irgendwann deren Folgen sichtbar. Vor allem, wenn man sie zu einem Tabuthema macht.
Denn verletzte Menschen verletzen Menschen. Und sie registrieren nicht einmal, dass das, was sie bei anderen anrichten, ein Leben lang eine Rolle spielen kann. Wenn ihre Verletzungen nicht aufgearbeitet wurden, verletzen sie auch ihre Partner:innen oder Kinder. Sobald man eine ernsthafte Beziehung eingeht, sobald man Kinder bekommt, übernimmt man die Verantwortung für einen anderen Menschen. Und das sollte uns bewusst sein.
Man wird nicht als Narzisst:in geboren, man wird dazu gemacht, durch die Familiendynamiken, gesellschaftliche Umstände. Ich glaube, das ist die große Chance unserer Zeit. Sozusagen die Revolution im Kopf: Dass ein Bewusstsein für die Defizite entsteht, die die Verletzungen der Vergangenheit in einem angerichtet haben. Sich der eigenen Defizite bewusst zu sein, ist der erste Schritt, um an ihnen arbeiten zu können.
Vielleicht verstehen dann auch die Uneinsichtigsten, dass diese Sensibilität der jüngeren Generationen keine Schwäche ist. Sie ist eine Stärke.
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