Wolfgang begleitet mich, seit ich bewusst denken und fühlen kann. Inzwischen kommen wir ganz gut miteinander klar. Das war nicht immer so.
Über viele Jahre hinweg hat er versucht, mir ernsthaft zu schaden, obwohl das nie seine Absicht war. Er meinte es immer nur gut. So wie enge Freund:innen oder Familienmitglieder, die oft sagen: "War gar nicht böse gemeint. Ich wollte doch nur dein Bestes."
Wolfgang ist mein innerer Kritiker. Und er ist ein echter Wolfgang. Jedenfalls so, wie ich mir Wolfgangs vorstelle: Konservativ, etwas kauzig, mein Alter, Sandalen und weiße Socken, Schnurrbart, durch und durch Spießer und irgendwie auch sehr bodenständig.
In vielen Teilen ist er das Gegenteil von mir, obwohl er dann doch sehr zu mir gehört. Er geht mir oft wahnsinnig auf die Nerven. So sehr, dass es mich manchmal fast krank gemacht hätte. Und ich bin mir sehr sicher: Die meisten von uns haben einen Wolfgang, eine Melanie, einen Alexander oder eine Sabine in sich.
Wolfgang hatte, seit ich ihn bewusst wahrnehme, immer schon eine sehr sarkastische Art, mit mir umzugehen. Eine Form von Ironie, die ich deshalb nicht mochte, weil sie unfassbar überheblich war. Und er tauchte immer dann auf – so ist es bis heute – wenn ich gerade wirklich richtig zufrieden mit mir war. Wenn ich im Job stolz auf mich war, zum Beispiel.
Gerade gestern sprang er mir fast vors Auto. Ich war auf der Autobahn unterwegs und hatte einen Fall von Krisenkommunikation gelöst. Gut gelaunt beendete ich ein Telefonat.
Ich hatte gerade aufgelegt, da sah ich Wolfgang kommen, mitten auf der A7. Gefühlt sprang er während der Fahrt ins Auto, auf den Beifahrersitz. "Glück gehabt, Mike. Das Ding hätte auch ganz anders ausgehen können. Mit Können hatte das ja nur bedingt zu tun, oder?“
Was für eine Unverschämtheit. Wolfgang wusste genau, dass ich alles gegeben hatte. Dass dieser Fall auf der Kippe stand, als ich ihn übernahm. Und dass es alleine der Tatsache geschuldet war ... Ach, egal. Ich tappte fast schon wieder die Falle und wäre ihm beinahe auf den Leim gegangen. Er wollte mich ja eh nur wieder ärgern.
"Also, komm. Hau raus. Kritik immer gerne, Wolfgang. Aber lass diesen Ironie-Sound", sagte ich und biss vor Wut in einen Schokoriegel. In den nächsten 30 Minuten erklärte mir Wolfgang, was ich hätte besser machen können. Dass ich einige Dinge nicht wirklich gut könne und wo in Zukunft noch Luft nach oben sei. Und irgendwie musste ich ihm recht geben.
Wolfgang ist allerdings auch wirklich schlau. An einigen Stellen seiner Analyse lobte er, und ich erfuhr seine ganze Wertschätzung, sodass ich die Kritik besser annehmen konnte. Er weiß mich einfach über die Jahre zu nehmen.
Viele Menschen führen einen inneren Monolog, der so ziemlich alles kommentiert, was ihnen begegnet, was sie tun, was sie fühlen.
Im besten Fall ist diese Stimme liebevoll und wohlwollend, sie treibt uns an und motiviert uns. Leider gibt es aber auch Stimmen, die so sind wie die von Wolfgang. Bei vielen ist ein Wolfgang allerdings stärker als die liebevolle Stimme. Man wird kritisiert, niedergemacht, die Wolfgangs sorgen dafür, dass wir in negativen Gedankenmodellen gefangen gehalten werden.
Und genau diese Negativität kann krank machen. Wir geraten in einen Strudel, der unter anderem Depressionen oder Angstzustände auslösen können. Das berichten Psycholog:innen, mit denen ich mich über das Phänomen des inneren Kritikers unterhalten habe.
Der innere Monolog kann zu einer inneren Kraft werden, die unsere mentale Gesundheit negativ beeinflusst. Und genau das ist der Moment, an dem man dringend aktiv werden sollte. So war es auch bei mir. Wolfgang war derart oft in meinem Ohr, dass ich ihn schon fast fürchtete.
Ein sehr enger Freund, der seit Jahren als Coach arbeitet, hatte einen wichtigen Rat: Er ist sich sehr sicher, dass man Wolfgangs loswerden muss, jedenfalls, wenn sie so oft auf den Plan treten. Und das geht nur mit mentaler Flexibilität.
Wenn wir unsere Gedanken und Aufmerksamkeit flexibler gestalten, könne das vor Krankheiten schützen, und er gab mir ein paar wichtige Tipps, wie das gelingen kann. Ein Zauberwort, das kein Wolfgang mag, heißt Ablenkung.
Gibt man Wolfgang nicht so viel Aufmerksamkeit, wird er schnell gelangweilt sein. Taucht er auf, schaut man zum Beispiel in den Himmel, atmet tief durch oder denkt und spricht mit einer alternativen, sehr netten und liebevollen inneren Stimme. Man durchbricht also proaktiv den Gedankenstrudel.
Irgendwann wird es Wolfgang zu blöd und er geht einfach. Man muss das einfach nur konsequent immer wieder tun. Wenn das alleine nicht hilft, wird man aktiv. Man tut Dinge, die einen interessieren. Geht eine Runde laufen, ruft einen lieben Menschen an, nimmt sich eine Arbeit vor, in die man tief eintauchen kann.
Es ist wichtig, in einen anderen Flow zu kommen. Je mehr Dinge wir tun, die uns Spaß machen, desto weniger hat der negative Wolfgang eine Chance. Wenn das alles nicht hilft, dann kann die direkte Auseinandersetzung mit Wolfgang eine Möglichkeit sein. Das solltest du aber nicht alleine tun.
Wer sich "Ich bin nicht gut genug" denkt, kann sich folgende Fragen stellen: Stimmt das wirklich? Ist das überhaupt möglich? Gibt es Beweise dafür? Vielleicht sprichst du auch mit einer dir nahestehenden Person oder bei der Therapie darüber, und ihr erörtert den Gedanken gemeinsam, bis du das Gefühl hast, ihn widerlegt zu haben. Mit professioneller Hilfe kann es wirklich gut gelingen, die Negativität in den Griff zu bekommen.
Denn meistens ist es so, dass hinter jedem Wolfgang ein Grund steckt, warum es ihn überhaupt gibt. Und es ist gut zu wissen, wie Wolfgang überhaupt geboren werden konnte.
Inzwischen sind er und ich übrigens Freunde geworden. Es ist eine Art Hass-Liebe. Hinzu kommt eine zusätzliche innere Kritikerin, die deutlich gnädiger und netter mit mir umgeht. Ich nenne sie Melanie. Zusammen haben wir Wolfgang ganz gut im Griff hat.