Das Einzige, was sich im Moment zum Thema Omikron und die Auswirkung auf ungeimpfte und damit immunnaive Kinder mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass es keine sicheren Erkenntnisse dazu gibt. So sagte der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI) Lothar Wieler in einer Pressekonferenz zusammen mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und dem Virologen und medizinischen Berater der Bundesregierung Christian Drosten, dass die Datenlage über die Krankheitsverläufe nicht eindeutig sei.
Es gebe Hinweise in einer aktuellen US-Studie auf mildere Verläufe bei Kindern unter fünf Jahren. Zugleich weist Wieler aber darauf hin, dass der aktuelle Wissensstand über die Langzeitfolgen von Covid-19 gering sei. "Es gibt zum Beispiel eine US-amerikanische Studie aus letzter oder vorletzter Woche, die das untersucht hat und wo man doch bestimmte Risiken für Folgekrankheiten erkannt hat", warnt Wieler. So bleibt Eltern von kleinen Kindern im Moment nur eines: Die Unsicherheit darüber, ob Omikron nun eine Bedrohung darstellt oder nicht.
Vor allem Eltern vorerkrankter Kinder bringt die aktuelle Situation, ohne einen zugelassenen Impfstoff für unter Fünfjährige, in die Bedrängnis, ob sie nun ihre Kinder weiterhin in Schule oder Kita schicken sollen, dem Virus und einer potenziellen Durchseuchung praktisch schutzlos ausgeliefert. Gesundheitsminister Lauterbach hält die getroffenen "klassischen" Maßnahmen wie Maske tragen, Lüften, die Isolation infizierter Kinder und Quarantäneregelungen derzeit für ausreichend und hofft, so auch ohne Schulschließungen durch den Winter zu kommen. Viele Eltern von Risiko-Kindern sehen das kritisch.
Ein Ausweg für Eltern könnte sein: Eine sogenannte Off-Label-Impfung, das heißt: eine Impfung der Kinder mit einem noch nicht für die Altersgruppe von null bis vier Jahren zugelassenen Impfstoff gegen Covid-19.
Auch Eltern gesunder Kinder stellen sich mittlerweile die Frage, ob sie eine drohende Durchseuchung ihrer Kinder in Schule und Kita in Kauf nehmen oder die Kleinen lieber vorsorglich off-label impfen lassen sollen.
watson hat über das Thema mit Jakob Maske, Pressesprecher des Bundesverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und mit Prof. Dr. Rainer Blasczyk von der Medizinischen Hochschule Hannover gesprochen, um die drängendsten Fragen zu klären. Dr. Blasczyk führt nach sorgfältiger Abwägung des Einzelfalls in seiner Praxis sogenannte Off-Label-Impfungen bei Unter-Fünfjährigen durch.
Ende Dezember vergangenen Jahres hatte die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) mit der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und der Unterstützung des Bundesverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) eine Stellungnahme zu den Auswirkungen der Corona-Variante Omikron auf Kinder veröffentlicht. Darin wurde darauf hingewiesen, es sei zu früh für eine endgültige Bewertung – aber auch darauf, dass sowohl Erfahrungsberichte aus Südafrika, London und Australien beruhigend seien. Und, dass die Erfahrung aus den vorherigen Pandemiewellen mit den Varianten Alpha und Delta keine besonderen Gründe zur Besorgnis gäben.
Zum aktuellen Stand meint Pressesprecher Jakob Maske vom BVKJ: "Tatsächlich gibt es kaum neue Erkenntnisse, die, die wir haben, scheinen eher einen noch milderen Verlauf anzuzeigen." Dem zu widersprechen scheinen Daten aus Großbritannien, die darauf hinweisen, dass seit Beginn des neuen Jahres bereits mehr Kinder und Jugendliche hospitalisiert wurden als in Großbritannien während der gesamten ersten Corona-Welle.
Muss das jetzt doch alarmieren? Maske sagt dazu gegenüber watson: "Dies konnte so in anderen Ländern nicht gesehen werden und eine genauere Auswertung dieser Daten liegt uns auch noch nicht vor, sodass man diese Aussagen mit absoluter Vorsicht behandeln muss. Noch dazu ist ein Ländervergleich immer schwierig."
Der BVKJ vertritt hierzu eine eindeutige Haltung: "Selbstverständlich würden wir im Moment Kinder weiter in die Kita schicken. Die Krankheitslast ist ausgesprochen gering. Durch die bereits etablierten Schutzmaßnahmen werden die Kinder auch weiter bestmöglich vor Infektionen geschützt", so Pressesprecher Maske zu watson.
In diesem Punkt gehen die Einschätzungen der Experten jedoch auseinander. Professor Rainer Blasczyk führt die aktuell hohe Ansteckungsgefahr ausdrücklich als einen seiner Gründe dafür an, die Altersgruppe der Unter-Fünfjährigen ohne offizielle Zulassung zu impfen.
"Da das Infektionsrisiko extrem hoch ist und das damit verbundene Erkrankungsrisiko größer ist als die bekannten Risiken der Impfung, gibt es außer den regulatorischen Argumenten keine relevanten medizinischen Argumente dagegen", widerspricht Prof. Blasczyk gegenüber watson der Haltung des BVKJ.
"Insofern fällt es mir schwer, die Kinder einfach ihrem Schicksal zu überlassen und zu argumentieren, dass das Virus höchstwahrscheinlich keinen Schaden anrichten wird. Es gibt keine Daten, die zeigen, dass das Virus harmloser ist als die Impfung. Der unter-fünfjährige Organismus unterscheidet sich immunologisch nicht vom über fünfjährigen Organismus. Hinzu kommen die pädagogischen, psychischen und sozialen 'Nebenwirkungen' der Nicht-Impfung, die – wenig überraschend – zu einem enormen Problem bei Kindern geworden sind."
Jakob Maske vom BVKJ sieht eine Infektion mit Omikron hinsichtlich der Langzeitfolgen dagegen nicht allzu kritisch: "Bisher ist nichts zu Langzeitfolgen bekannt, was bei einer Variante, die erst seit wenigen Wochen bekannt ist, natürlich auch nicht überrascht. Schwerwiegende Erkrankungen bei Kindern mit Komplikationen sind bei Omikron bisher offenbar extrem selten." Aus diesem Grund spricht sich der Verband der Kinder- und Jugendärzte klar gegen eine Impfung der Kleinsten ohne Zulassung der EMA oder Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) aus.
"Eine Off-Label-Impfung erscheint nicht sinnvoll, wir wollen unsere Kinder mit einem für sie sicheren Impfstoff impfen, der mehr Nutzen als Risiko hat. Dies ist bei einer so niedrigen Krankheitslast wie bei den Null- bis Vierjährigen um so wichtiger. Daher empfehlen wir, nur mit einem zugelassenen und empfohlenen Impfstoff zu impfen. Die Zulassung garantiert dabei die sichere Wirkung und die sichere Dosis, die Empfehlung durch die STIKO garantiert den Nutzen und das geringe Risiko."
Für Prof. Blasczyk ist die Lage nicht ganz so eindeutig, jedoch plädiert auch er bei der Entscheidung, ein gesundes Kleinkind aus Gründen der Besorgnis und auf Wunsch der Eltern off-label zu impfen, für ein Vorgehen mit Augenmaß: "Ich hätte vollstes Verständnis für diesen Wunsch, wäre aber wegen der noch nicht erfolgten Zulassung zurückhaltend. Allerdings hat das SARS-CoV-2-Virus auch keine Zulassung."
Bezüglich der Risikoabwägung hat der Arzt jedoch eine gegensätzliche Einschätzung gegenüber der seines Kollegen vom BVKJ: "Nach der bisherigen Datenlage sieht es so aus, dass das Risiko einer Impfung überdeutlich geringer ist als das Risiko einer Infektion. Immunologisch sehe ich keinen Unterschied zwischen einem Fünfjährigen und einem Vierjährigen." Es gebe auch zusätzliche Faktoren, die eine Rolle bei der Entscheidung für oder wider eine Impfung spielen könnten. "Wenn ich erhebliche psychosoziale Folgen einer Nicht-Impfung erkenne, könnte die Impfung einen Ausweg darstellen."
Nach Erfahrung von Professor Blasczyk seien alle Eltern, die diesen Wunsch äußern, außerordentlich gut informiert. "Keiner macht sich diese Entscheidung einfach. Viele kommen auch aus dem medizinischen Bereich." Er bekomme nach der Impfung zudem sehr positive Reaktionen von den Eltern. "Sie sind überglücklich. Sie erwecken den Eindruck, dass eine große Last von ihnen genommen wurde."
Prof. Rainer Blasczyk sieht in seiner Impfambulanz mit der Omikron-Welle keinen signifikanten Anstieg in der Nachfrage. "Der Wunsch nach Off-Label-Impfungen war schon immer hoch, zunächst bei den unter 16-jährigen, dann bei den unter 12-Jährigen und jetzt bei den unter Fünfjährigen, beziehungsweise deren Eltern. Omikron wird immer wieder thematisiert, aber ich sehe deswegen keine deutliche Zunahme des Impfwunsches."
Prof. Blasczyk beobachtet unterschiedliche Beweggründe bei den verschiedenen Altersgruppen in der Nachfrage nach einer Covid-Impfung. "Bei den unter zunächst unter 16-jährigen und unter 12-jährigen waren es überwiegend gesunde Kinder und Jugendliche, die oft ihr vulnerables Umfeld thematisiert haben, insbesondere die Großeltern. Bei den unter Fünfjährigen sind es überwiegend Eltern, deren Kinder unter Vorerkrankungen leiden, die ein vulnerables Umfeld haben oder sehr oft eine impfskeptische Kita besuchen wollen, beziehungsweise müssen. Hier spielen die psychosozialen Faktoren einer Isolierung als Alternative zur Impfung eine große Rolle."
So oder so bleibt es für Eltern zum jetzigen Zeitpunkt eine individuelle Gewissensentscheidung, ihre Kinder auch ohne Zulassung mit einer Impfung gegen das Coronavirus zu immunisieren. Anhaltspunkte, wann mit einer offiziellen Zulassung eines Corona-Impfstoffes für Kinder unter fünf Jahren zu rechnen wäre, gibt es derzeit nicht.