David gegen Goliath: In Lützerath wird ein globaler Konflikt sichtbar und greifbar.Bild: dpa / Oliver Berg
Analyse
Steine sind geflogen. Polizist:innen wurden mit Feuerwerkskörpern beworfen. Barrikaden aus Ästen, Steinhaufen und Straßenschildern sollen der Polizei die Räumung erschweren: Der Kampf um Lützerath ist symbolisch aufgeladen, emotional und politisch brisant. Seit Tagen warnt die Polizei vor "gewalttätigen Krawallen".
Ausgerechnet zwei grüne Minister:innen haben einen Deal mit dem Energieunternehmen RWE ausgearbeitet: Sie haben das von Klimaaktivist:innen besetzte Dorf Lützerath geopfert für einen von 2038 auf 2030 vorgezogenen Kohleausstieg. Angeblich, um Emissionen einzusparen.
Die Abbruchkante rückt immer näher an das kleine Dorf Lützerath heran.Bild: www.imago-images.de / imago images
David gegen Goliath – Aktivisten gegen Polizisten: Wer gewinnt?
Doch unabhängigen Gutachten zufolge werden durch diesen Deal keinerlei Emissionen eingespart, sie werden lediglich in einem kürzeren Zeitraum ausgestoßen.
Das wollen Klimaaktivist:innen und eine wachsende Anzahl an Menschen verhindern. Unbedingt. Für sie geht es um alles oder nichts: Denn mit Lützerath steht und fällt das 1,5-Grad-Ziel.
Aktivist:innen von Fridays for Future, Extinction Rebellion und der Letzten Generation haben sich deswegen für das Aktionsbündnis "Lützerath unräumbar" zusammengetan.
"Zunächst ist festzuhalten, dass der Konflikt um das Dorf Lützerath bis dato vergleichsweise friedlich verläuft."
Soziologe Philipp Knopp
Seit Tagen schon ist die Stimmung in dem kleinen Ort angespannt – auf beiden Seiten. Die Polizei trifft Vorbereitungen, um das besetzte Dorf zu räumen. An diesem Mittwoch soll es so weit sein.
Dann heißt es, Aktivist:innen gegen Polizist:innen. Oder auch: David gegen Goliath.
Polizei gegen Klimaaktivist:innen: An diesem Mittwoch soll die Räumung von Lützerath beginnen. Bild: dpa / Oliver Berg
Wie weit werden Polizisten und Aktivisten gehen?
Wann kommt es zum großen Knall? Wird die Räumung gelingen? Und vor allem: Wie heftig werden die Auseinandersetzungen ausfallen?
"Zunächst ist festzuhalten, dass der Konflikt um das Dorf Lützerath bis dato vergleichsweise friedlich verläuft", erklärt der Soziologe Philipp Knopp von der Bertha von Suttner Universität, der zu Protesten und der Klimabewegung forscht, gegenüber watson. Das gelte sowohl für die Polizei als auch die Protestierenden.
Ganz anders sei dies in der Vergangenheit etwa bei Konflikten um Atommüll-Endlager oder große Infrastrukturprojekte wie die Frankfurter Startbahn West gewesen. "Polizei und Umweltbewegung haben daraus gelernt", sagt Knopp.
"Dann wird sie als Gegner wahrgenommen und das legitimiert möglicherweise auch Gewalt gegen Polizist:innen."
Soziologe Philipp Knopp
Zwar komme es zu kleineren Zusammenstößen, aber diese sogenannten Mikroeskalationen würden von den Beteiligten relativ schnell wieder kontrolliert. Knopp ergänzt:
"Ich glaube, wir müssen verstehen, wieso Menschen Gewalt in bestimmten Situationen als legitimes Mittel ansehen. Die Gewalt und mithin auch die Drohungen, die von beiden Seiten ausgehen, können dazu führen, dass gewaltsame Grenzverletzungen im nächsten Aufeinandertreffen als gerechtfertigt erscheinen."
Das große Polizeiaufgebot, die polizeiliche Gewalt gegen friedliche Demonstrierende oder auch Repressalien bei der Anreise könnten gegenüber den Aktivist:innen den Eindruck erwecken, dass die Staatsmacht die Interessen von RWE mit allen Mitteln durchsetzen wolle. "Dann wird sie als Gegner wahrgenommen und das legitimiert möglicherweise auch Gewalt gegen Polizist:innen", sagt Knopp. Er fügt hinzu:
"Zudem sind die Aktivist*innen zunehmend frustriert über die zögerlichen Maßnahmen der Politik und sehen, dass die Zeitfenster für demokratische Maßnahmen, die alle Gesellschaftsschichten einschließen, sich zu schließen beginnen. Das verleiht ihrem Anliegen Dringlichkeit und kann in Zukunft auch Radikalisierungsprozesse unterstützen."
Mit aller Kraft versuchen Aktivist:innen die Polizisten an der Räumung Lützeraths zu hindern. Bild: dpa / Oliver Berg
Soziologe fordert Einschreiten der Politik
Knopp betont aber auch, dass die Beteiligten derzeit noch reflexiv mit Provokationen umgingen, es müsse also nicht zwangsläufig eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt werden. An die Wand malen sollte man diese schon gar nicht.
Vielmehr komme es darauf an, hinter die Protestaktionen zu blicken und die Motivationen und Interessen der Konfliktparteien zu hinterfragen. Er sagt:
"Es gibt andere Möglichkeiten der Konfliktaustragung. Die Politik ist aufgerufen, politische Auswege zu suchen und zu finden. Eine polizeiliche Räumung vertagt den Konflikt nur, denn an der drastischen klimapolitischen Situation ändert sie nichts."
In Lützerath wird ein globales Problem durch Kohlebagger greifbar
Denn die politische Konfliktlinie verlaufe nicht zwischen Polizei und Aktivist:innen. "Es gibt viele Player, zuallererst die primäre Konfliktpartei RWE und die Landesregierung NRW."
Zudem gehe es in dem Konflikt um mehr als Lützerath, wie Knopp erläutert: Für RWE und fossile Energieunternehmen geht es um die Verhandlung von Kompromissen und Profit durch den Kohleabbau. Für die Klimaaktivist:innen wiederum geht es darum, deutlich zu machen, dass die Zeit der Kompromisse vorbei ist, wenn es eine "lebenswerte Zukunft" geben soll. Die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels ist für diese Zukunft eine Mindestvoraussetzung.
"Ein globales Problem wird mit den riesigen Schaufelrädern der Kohlebagger sichtbar und im Dorf Lützerath greifbar."
Soziologe Philipp Knopp
Der Konflikt berührt daher auch Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung. "Ein globales Problem wird mit den riesigen Schaufelrädern der Kohlebagger sichtbar und im Dorf Lützerath greifbar", sagt Knopp. Er ergänzt:
"In Lützerath sehen wir einen Konflikt um zentrale Werte unserer Gesellschaft: Klima, Verantwortung, Eigentum und Zukunft stehen auf dem Spiel. Die Einsätze sind also für alle Seiten hoch. Das kann auch Gewalt legitimieren, wenn die Polizei das Eigentumsrecht durchsetzt und die Aktivist*innen sich dem widersetzen wollen."
Der Kampf um Lützerath ist symbolisch aufgeladen – er macht ein globales Problem sichtbar.Bild: dpa / Oliver Berg
Wem gehört Lützerath? Ein Kampf um die Deutungshoheit über ein Dorf
Es ist ein Kampf um die Deutungshoheit.
Aktivist:innen gegen Polizist:innen. "Sie stellen die jeweils andere Seite als gewalttätig dar und müssen gleichsam selbst beweisen, dass sie dagegenhalten können", sagt Knopp.
Die Polizei markiert Grenzen, demonstriert ihre Stärke.
"Eine Räumung wird mit ziemlicher Sicherheit zu Gewalt von Seiten der Polizei und von Demonstrierenden führen. Die Polizei kann das in ihrem Agieren nur abschwächen."
Soziologe Philipp Knopp
Aktivist:innen wollen der Räumung standhalten, weitere Mitstreitende mobilisieren. Sie müssen gegenhalten.
David gegen Goliath.
Aktivist:innen gegen Polizist:innen.
"Sowas kann sich leicht hochschaukeln", urteilt Knopp. Hinzu kämen Aktionen, die die jeweils andere Seite als Provokation wahrnehmen könne: Polizist:innen ziehen unter Zwangsgewalt einzelne aus der Menge, verhindern den Aufbau von Barrikaden oder die Anreise von Aktivist:innen. Diese polizeilichen Maßnahmen könnten retrospektiv zur Legitimation von Gewalt dienen.
Stopp der Räumung: Soziologe sieht Lösung des Konflikts in der Politik
"Bislang funktionieren die Routinen der Gewalteinhegung auf beiden Seiten aber gut", betont Knopp. Gefährlich werde es nur, wenn die eingeübten Mechanismen nicht mehr funktionieren, sich die vermittelnden Akteure auf beiden Seiten zurückziehen sollten. "Eine Räumung wird mit ziemlicher Sicherheit zu Gewalt von Seiten der Polizei und von Demonstrierenden führen. Die Polizei kann das in ihrem Agieren nur abschwächen."
Polizist:innen tragen einen Aktivisten unter Zwangsgewalt aus der Menge heraus.Bild: AP / Michael Probst
Aus diesem Grunde dürfe man dem Experten zufolge jetzt nicht den Fehler machen, den Konflikt auf Gewalt zwischen den Protestierenden und der Polizei zu begrenzen. "Als Medien und Wissenschaft sind wir verpflichtet, andere Auswege als eine Eskalation aufzuzeigen", sagt er. Das wirksamste Mittel: Die Räumung aussetzen und den Raum für politische Verhandlungen öffnen. "Dieser müsste die verschiedenen Betroffenengruppen erneut an einen Tisch bringen und politische Lösungen suchen, so schwierig das in diesem Wert- und Interessenkonflikt auch sein mag."
Dass bei der Deutschen Bahn für die nächsten Jahre ziemlich viel auf der To-do-Liste in puncto Infrastruktur steht, ist kein Geheimnis. Das Streckennetz ist marode und wirkt sich auf die Pünktlichkeit der Züge aus: Bereits Mitte des Jahres gab die Bahn ihr Pünktlichkeitsziel für 2024 auf, im gesamten ersten Halbjahr kamen nur 62,7 Prozent der Züge pünktlich an.