Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine vor knapp einer Woche ist die Russland-Krise eskaliert – und damit auch der Streit um die Zulassung der viel diskutierten Gaspipeline Nord Stream 2. Schließlich legte die Bundesregierung die Zulassung der Gaspipeline zunächst auf Eis. Dmitri Medwedew, Ex-Präsident und aktuell Vize-Vorsitzender des Sicherheitsrats in Russland, drohte Deutschland daraufhin prompt auf Twitter mit einer Verdopplung der Gaspreise.
Um die Erpressungsstrategie zu stoppen, die Russland mit fossilen Energieträgern gegenüber Deutschland fährt, will die Bundesregierung jetzt eine komplette Umstellung der Stromerzeugung auf erneuerbare Energien forcieren. Das teilte Franziska Brantner (Grüne), Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, am Dienstag im "Deutschlandfunk" mit.
"Wir haben jetzt die ersten Gesetzesentwürfe zum Osterpaket in die Ressortabstimmung gegeben und ja, wir planen eine wirkliche nationale Kraftanstrengung, um die Erneuerbaren schneller voranzubringen, in die Fläche zu bekommen", antwortete Brantner auf die Frage, ob sie einen entsprechenden Bericht der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zum Umstieg auf die Erneuerbaren bestätigen könne. Die Zeitung hatte unter Berufung auf ein Papier des Wirtschaftsressorts berichtet, dass der Strom in Deutschland statt bis 2050 nun bereits 2035 "nahezu vollständig aus erneuerbaren Energien stammen" solle. Wie Brantner nun betonte, sei diese Entscheidung "nicht nur eine Frage von Klimaschutz, sondern wirklich von Sicherheit, da müssen wir eben alles geben".
Auf Anfrage von watson bestätigte auch der Vorsitzende im Bundestags-Ausschuss für Klimaschutz und Energie, Klaus Ernst (Die Linke), dass Nord Stream 2 für längere Zeit nicht in Betrieb genommen werde.
Der Ausstieg aus russischem Gas wirft allem voran die Frage nach der aktuellen Gasversorgung in Deutschland auf. Dazu nahm Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bereits vergangenen Donnerstag in einer offiziellen Pressekonferenz Stellung und versicherte, dass die deutschen Gas-Füllstände sich in letzter Zeit stabilisiert hätten, sodass Deutschland auch ohne russische Gaslieferungen sicher über den Winter kommen werde. "Für den nächsten Winter sind weitere Maßnahmen auf den Weg gebracht." Geplant sei eine Gasreserve, die zukünftig für die Betreiberfirmen verpflichtend werden solle.
Das sind deutlich konkretere Pläne zur Energiewende als noch vor Beginn der Invasion Russlands in die Ukraine. Und dennoch: Die Bundesregierung hält am Gas fest. So arbeitet der Bundestags-Ausschuss für Klimaschutz und Energie parallel auch an einer Umverteilung der fossilen Energiebezugsquellen, also an neuen Verträgen mit anderen Gasländern, wie Nina Scheer (SPD), Mitglied im Bundestags-Ausschuss für Klima und Energie, auf watson-Anfrage antwortete.
Konkret wurden aber keine Länder genannt, aus denen die Bundesregierung plant, ihre Gasreserven stattdessen zu beziehen.
Laut dem Energiejahresbericht von BP 2020 sind für Deutschland nach Russland zuerst Norwegen, dann die Niederlande und Dänemark damit jetzt die übrigbleibenden Haupt-Gaslieferanten.
"In Bezug auf die unmittelbare Versorgungsfrage hat der Stopp der Pipeline keinen Einfluss, wenngleich etwa auch klima- und umweltbezogene Effekte", erklärte Scheer (SPD), auf eine Anfrage, die watson bereits vor der Entscheidung der Bundesregierung zum Stopp von Nord Stream 2 gestellt hatte. Allein durch den kürzeren Transportweg des Erdgases wäre die Pipeline laut Scheer eine klimatisch bessere Option als andere Gasleitungen gewesen. Ihre Begründung: Mit Nord Stream 2 gäbe es einen "circa 1000 Kilometer kürzeren, technisch moderneren und effizienteren Transportweg" zwischen neu erschlossenen Gas-Vorkommen auf der Jamal-Halbinsel mit den Gasmärkten in Europa.
Das ist aber nur ein Vorteil, der neben einer Reihe an schädlichen Klimaauswirkungen durch Gaspipelines kaum ins Gewicht fällt. Die Nachteile beim Gas fangen bereits bei der Gasförderung an, wie Gunnar Luderer, Experte für Energiesysteme am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), gegenüber watson erklärt. "Aktuelle Studien zeigen zunehmend deutlich, dass bei der Erdgasgewinnung deutlich mehr Methan in die Atmosphäre entweicht als bisher gedacht. Das ist ein großes Problem für das Klima, weil Methan ein sehr starkes Klimagas ist." In manchen Förderregionen seien die Methanemissionen dabei deutlich höher als in anderen, wie der Experte berichtet:
Diese Ansicht unterstützt Ralf Sussmann, Klimaforscher am Institut für Atmosphärische Umweltforschung in Garmisch-Partenkirchen. Für ihn stellen Nord Stream 2, wie auch andere Gaspipelines, bei der Erdgasförderung oder beim Transport des Erdgases ein hohes Risiko für eine weitere Verschärfung der Klimaerwärmung dar. Unabhängig davon, wie kurz oder lang die Verbindungsstrecke ist. Das liege vor allem an Emissionen des geförderten Methangases, die öfter als angenommen bei Lecks aufträten:
Sobald Methangas durch undichte Stellen austritt, gelangt es direkt und unverbrannt in die Atmosphäre, was zu großen Schäden führt. "Nachdem es ausgetreten ist, wirkt Methangas in den ersten 20 Jahren dann bis zu 87-mal stärker auf die Atmosphäre ein als CO2", so Sussmann. Es würde sich nach diesem Zeitraum jedoch auch exponentiell wieder selbst zersetzen. "Während CO2 tausende Jahre in der Atmosphäre bleibt, fällt die Konzentration von Methan dann nach zehn Jahren auf circa ein Drittel ab." Wie stark die Emissionen sich auf die Atmosphäre auswirkten, sei also eine zeitabhängige Rechnung. Im Rennen gegen den Klimawandel fehlt es aber genau daran.
Die bislang noch unbekannte Anzahl von Lecks und undichten Stellen an Pipelines würde mit darüber entscheiden, ob Erdgas weniger klimaschädlich als andere fossile Energieträger sei. Denn gerade im Bereich zwischen zwei und sechs Prozent läge ein Umkehrpunkt. Sussmann erklärt:
Vor diesem Hintergrund bewertet Sussmann die Installation und die immer noch mögliche Inbetriebnahme von Nord Stream 2 als äußerst kritisch. "Wenn die Leckraten tatsächlich höher wären als die geschätzten sechs Prozent, dann könne die gesamte Strategie von Erdgas als Übergangslösung nach hinten losgehen", folgert er. Ein Fakt spreche für ihn aber klar gegen die Entscheidung für die neue Gaspipeline:
Ein Blick auf Deutschlands Klimaziele verdeutlicht, dass es sich dann nicht lohnt. Sussmann schlussfolgert: "Wenn die Bundesregierung weiterhin zu ihrem Klimaziel stehen will, geht diese politische Rechnung also nicht auf."
Dass fossile Energieträger wie Kohle durch die hohen Gaspreise wieder attraktiver für die Bundesregierung werden könnten, stuft Gunnar Luderer als "großes Risiko" ein.
"Aufgrund der hohen Gaspreise hat die Kohleverstromung in Deutschland zuletzt wieder zugenommen: 2021 wurde etwa ein Viertel mehr Kohlestrom produziert als 2020", so Luderer. Gerade diesen "Boomerang"-Effekt bewertet er als wichtigen Impuls dafür, stattdessen den Ausbau der Erneuerbaren so schnell wie möglich voranzubringen. Weitere Investitionen in Pipelines würden den Umstieg hin zu einer Vollversorgung aus erneuerbaren Energien sonst behindern und Deutschland weiterhin von Staaten mit fossilen Energievorkommen abhängig machen.
Diese Forderungen werden jetzt zum Teil in der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetz aufgegriffen, die das Bundeswirtschaftsministerium am Sonntag als Reaktion auf die russische Energiekrise veröffentlichte:
Der Reform zufolge sollen die Vergütungen für Solaranlagen auf Dächern steigen; Vorgaben, mit denen die Solar-Förderung schrittweise gesenkt wurde, will das Wirtschaftsministerium abschwächen. Außerdem wolle der Bund neben dem Wegfall der EEG-Umlage ab Juli 2022 in so genannte "Differenzverträge" einsteigen, mit denen ein Mindesterlös für jede Kilowattstunde Strom garantiert werden soll. Zuerst werde dies für Photovoltaik-Freiflächenanlagen angestrebt. Damit müssten die Netzbetreiber dann, wenn sich der Strom am Markt zu höheren Preisen verkaufen lässt, alle Einnahmen jenseits dieses Mindesterlös-Betrags zurückerstatten. Das soll verhindern, dass die Betreiber höhere Strompreise an Kunden weitergeben können.