Am Freitag ist globaler Klimastreik.Bild: IMAGO/Wolfgang Maria Weber
Gastbeitrag
annika kruse, gastautorin
Wenn ich eines gelernt habe, ist es, dass die eigene Stimme dazu da ist, sie da zu nutzen, wo Ungerechtigkeiten sind – egal, ob in der Wahlkabine, bei Protesten oder in den sozialen Medien. Und genau jetzt ist es wichtiger denn je.
Ich bin 22 Jahre alt und gehe heute auf die Straße, um vor der Europawahl für meine Zukunft zu demonstrieren. So wie auch vor der letzten Europawahl – da war ich allerdings erst 17. Und obwohl das nicht sehr lange her ist, sind seitdem zahlreiche Dinge geschehen, die damals noch undenkbar schienen.
Wir als Fridays-for-Future-Bewegung haben seit 2019 Millionen Menschen auf die Straße gebracht – gemeinsam haben wir die größten Klimaproteste der europäischen Geschichte auf die Beine gestellt. Alleine das zu schreiben, erfüllt mich mit Hoffnung und Euphorie.
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Klimaproteste zeigen Wirkung in europäischer Klimapolitik
Als ich mit Klimaprotesten angefangen habe, dachte ich, dass die Politik das Klima einfach vergessen habe und das Problem mit einigen Wochen Protesten gelöst sei. Wenn schon Schüler:innen die Schule bestreiken, dann muss und wird die Politik doch sofort auf einen Pfad kommen, der die 1,5-Grad-Grenze einhält! Leider ist das nicht so geschehen.
Trotzdem ist es wichtig, jeden Erfolg zu betrachten – und davon haben wir vor allem innerhalb der EU so einige erzielt. Vor unseren Protesten schien eine gemeinsam durch Gesetze geregelte europäische Klimapolitik noch unerreichbar. Aber durch uns ist sie Realität geworden.
Durch unsere Proteste und die daraus hervorgerufene massenhafte Wahlbeteiligung ist 2019 der EU Green Deal Realität geworden. Hinter dem Namen verbirgt sich das größte Gesetzespaket der Welt und ein extrem machtvolles Tool zur Bekämpfung der Klimakrise, das eine weltweite Vorbildfunktion ausstrahlt.
Vor dem EU Green Deal hatten Tools berechnet, dass die Klimaschutzmaßnahmen Europas die Welt auf einen Pfad zu 3,5 Grad Erderhitzung führen würden – inzwischen sind es "nur" noch 2,5 Grad.
Natürlich darf uns diese Berechnung nicht blenden. Die neuen Zahlen klingen besser, aber mit jedem Zehntel Grad kommen Tausende Extremwetterereignisse mit ihren fatalen Folgen. Die neuen Erkenntnisse sollten uns nicht entwarnen, aber sie zeigen, dass es sich lohnt, in der Klimapolitik weiter voranzugehen.
Rechtsruck in Europa: Faschisten profitieren von Klimakrise
Leider zeichnen sich in Europa eher gegenteilige Trends ab. Wir erleben seit Jahren einen europaweiten Rechtsruck, der nicht nur unsere Demokratie, sondern auch unser Klima bedroht. Faschist:innen fahren in ganz Europa historische Siege ein. Faschist:innen sind eine Gefahr für die gesamte Gesellschaft. Klimapolitik möchten sie, wie auch die AfD in Deutschland, rückgängig machen.
Gleichzeitig profitieren sie von der Klimakrise. Denn wenn die Lebenshaltungskosten steigen – und das wird bei fehlender Bewältigung der Klimakrise zwangsläufig der Fall sein –, wird tendenziell rechter gewählt.
"Die europäische Antwort auf Rechtsextremismus darf nicht sein, weiter nach rechts zu rücken."
Während die Gefahr von rechts allseits bekannt ist, rückt die Europäische Volkspartei (EVP), die in der letzten Legislatur noch den EU Green Deal mitgetragen hat, immer weiter nach rechts. Von der Leyen, die der deutschen CDU angehört, hat sich zuletzt offen für eine Zusammenarbeit mit der ultrarechten Partei der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni gezeigt.
Die europäische Antwort auf Rechtsextremismus darf nicht sein, weiter nach rechts zu rücken, sondern die Brandmauer nach rechts stabil aufrechtzuerhalten. Aktuell wird klar: Auch für die Dinge, von denen wir dachten, sie bereits endgültig gewonnen zu haben, muss weiter gekämpft werden.
Die Bauernproteste haben zuletzt gezeigt, wie leicht es der Politik fällt, Vorwände herbeizuziehen, um die Klimapolitik zurückzudrehen.
Die Folgen der Klimakrise sind eine Gefahr für die Menschheit
An diesem Punkt erlaube ich mir eine knappe Bestandsaufnahme: Lange dachten privilegierte Gesellschaften wie unsere hier in Deutschland, dass wir "sicher" vor der Klimakrise wären. Das stimmt nicht. Europa ist der am schnellsten erwärmende Kontinent und hat sich seit 1980 mehr als doppelt so schnell erhitzt wie der globale Durchschnitt.
Die Klimabewegung streikt seit 2018.Bild: IMAGO/Müller-Stauffenberg
Mit der Hitze kommen die Katastrophensituationen, die Extremwetterereignisse und vieles mehr – und auf die ist Europa nicht ausreichend vorbereitet. In dem Bericht der Europäischen Umweltagentur aus dem letzten Monat heißt es: "Hunderttausende von Menschen könnten durch Hitzewellen sterben, und allein die wirtschaftlichen Verluste durch Überschwemmungen an den Küsten könnten eine Billion Euro pro Jahr übersteigen."
Die Aufgabe des neuen EU-Parlaments ist nicht mehr nur Emissionen zu senken, sondern realen Katastrophenschutz zu betreiben und uns, die Europäer:innen, vor den Folgen und Kosten der Klimakrise weitestgehend zu bewahren.
"Die Stimmung in der Gesellschaft wird an der Wahlurne entschieden"
Diese Fakten dürfen uns allerdings nicht in die Resignation treiben, denn dafür ist die verbleibende Zeit bereits zu knapp. Der perfekte Zeitpunkt, sich für gesunde Lebensgrundlagen und eine funktionierende demokratische Gesellschaft einzusetzen, ist genau jetzt.
Europawahl: Menschen ab 16 Jahren dürfen erstmals wählen
Heute werde ich, so wie viele andere Menschen in Europa, in Hunderten Städten auf die Straße gehen, für eine Zukunft auf diesem Planeten. Proteste bekommen eine deutlich höhere Effektivität, wenn sie um Wahlen durchgeführt werden, da damit die Wahlentscheidungen vieler direkt beeinflusst werden.
Und vor allem jene, die von den aktuellen Ereignissen, wie zum Beispiel zuletzt auf Sylt, schockiert waren, sollten wissen, wie relevant Wahlen sind. Durch rechte Politik werden rechte Parolen in der Gesellschaft überhaupt erst salonfähig. Die Stimmung in der Gesellschaft wird also an der Wahlurne entschieden.
Am 9. Juni haben wir alle die Wahl zwischen mehr Klimakatastrophe, Populismus und antidemokratischen Tendenzen oder effektivem Klimaschutz, Demokratie und Gerechtigkeit. Und diese Wahl haben sogar bereits alle Menschen ab 16 Jahren. Und das ist genau richtig so.
Annika Kruse ist 22 Jahre alt und studiert Politikwissenschaften.bild: fridays for Future
Junge Menschen wollen, können und verdienen es mitzubestimmen. Genauso wie ich als 17-Jährige engagieren sich Tausende andere Jugendliche unter 18 innerhalb der Gesellschaft und treiben die Transformation voran. Zu wissen, dass diese Menschen jetzt auch offiziell eine Stimme haben, gibt mir Hoffnung.
Die Klimakatastrophe schlägt derzeit nahezu ungebremst auf Menschen und Wirtschaft ein. Und ob ich noch Hoffnung habe? Es ist bereits mehr passiert, als vor unseren Protesten absehbar war. Deshalb versuche ich, mich nicht mehr zu fragen, wie schlimm es mal werden wird, sondern wie schlimm die Welt schon wäre, wenn es uns nicht gäbe. Und dann habe ich das Gefühl, dass wir es vielleicht doch noch schaffen können.