"Die im dritten Umsiedlungsabschnitt betroffenen Dörfer im Rheinischen Revier wollen wir erhalten. Über Lützerath werden die Gerichte entscheiden." So heißt es im Koalitionsvertrag der neuen Ampel-Regierung über die sechs bedrohten Dörfer im Rheinischen Braunkohlerevier. Das zeigt vor allem eins: Statt klare Kante in der Klimapolitik zu zeigen, wird die Entscheidung wieder weggeschoben an die Gerichte.
Lützerath ist ein Dorf am Tagebau Garzweiler, ca. 50 km von Köln entfernt. Seit Oktober ist es akut bedroht von RWE abgebaggert zu werden, denn unter Lützerath liegt eine besonders dicke Kohleschicht. Genau diese Kohle rückt das Dorf aktuell in den Fokus der deutschen Klimabewegung, denn der Ort steht symbolisch für die Kohledebatte in Deutschland: In Lützerath verläuft die 1,5 Grad-Grenze.
Die 1,5 Grad Grenze ist mittlerweile für viele ein stehender Begriff, trotzdem wird oft vergessen, was es damit eigentlich auf sich hat: Auf der UN-Klimakonferenz 2015 in Paris haben sich fast alle Staaten der Welt verpflichtet, die globale Erderhitzung auf weit unter 2 Grad und möglichst unter 1,5 Grad zu begrenzen. Sechs Jahre später sind wir bereits bei einer globalen Erderwärmung von 1,2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit (genauer die 1850er Jahre).
Was dabei weitestgehend außer Acht gelassen wird, ist, dass die Häufigkeit und Intensität von Extremwetterereignissen nicht linear verläuft, sondern sich mit jedem Grad weiter potenziert. Noch ist eine Begrenzung des Klimas bis zu 1,5 Grad laut Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern möglich, doch die Wahrscheinlichkeit wird immer kleiner und die nötigen Maßnahmen immer größer.
Ein Blick auf die weltweite Statistik zeigt: Deutschland ist auf Platz 6 der größten CO2-Emittenten der Gegenwart, historisch gesehen sogar auf Platz 3. Dennoch wird hier politisch weiterhin auf Verdrängung und Greenwashing gesetzt, das bedeutet Unternehmen oder Technologien werden als nachhaltig beworben, die es eigentlich gar nicht sind.
Währenddessen leiden viele Menschen weltweit bereits seit Jahrzehnten in unbeschreiblichem Ausmaß an den Folgen der Klimakrise. Eine Klimaerwärmung um 1,2 Grad bedeutet für diese Menschen regelmäßige Flutkatastrophen, Tsunamis, Hitzedürren, Hungersnöte und der Verlust der eigenen Heimat und Lebensgrundlagen. Somit ist auch 1,5 Grad kein wünschenswertes Szenario, geschweige denn ein Ziel.
Dabei treffen 70 Prozent aller Klimakatastrophen und 91 Prozent der dadurch bedingten Todesfälle aktuell genau die Menschen, die am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben. Doch trotzdem wird munter weiter Braunkohle abgebaggert und das Leid großer Teile der Welt ignoriert.
Warum kann gerade Lützerath zum Symbol in diesem globalen Kampf für Klimagerechtigkeit werden? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, kurz DIW, hat im Auftrag des Bündnisses "Alle Dörfer bleiben" im Juni 2021 eine Studie vorgelegt, die zeigt, wie im Rheinischen Braunkohlerevier die 1,5 Grad Grenze eingehalten werden kann. Das Ergebnis ist eindeutig: Lützerath muss erhalten und die Kohle darunter im Boden bleiben.
Eine weitere Studie der "Coal Exit Research Group" von Anfang 2022 zeigt zudem, dass eine Ausweitung des Tagebaus im Bereich des bereits abgebaggerten Ortes Immerath ausreichend Kohle bis 2030 sicherstellt. Dies ist eine eher konservative Berechnung der Kohlemenge, die bei dem angestrebten Ausbau erneuerbaren Energien vermutlich noch geringer ausfallen wird.
Lützerath muss also bleiben, wenn die neue Regierung den angekündigten Kohleausstieg 2030 tatsächlich ernst nehmen will. Mehr noch: Wenn die Regierung das Pariser Abkommen ernst nehmen will, muss der Kohleausstieg jetzt eingeleitet werden, denn selbst wenn Lützerath bleibt, kann um die Dörfer herum viermal soviel Kohle abgebaggert werden, wie das Pariser Klimaabkommen erlauben würde. Selbst dann haben wir nur noch eine 50-prozentige Chance unter 1,5 Grad zu bleiben.
Laut den neuesten Studien vom DIW steuern wir mit einem Kohleausstieg 2030 auf ein 1,75 Grad Szenario zu. Dies ist eine Beleidigung für uns und alle, die unter der Klimakatastrophe leiden. Viel wichtiger ist daher: Lützerath muss bleiben, denn ansonsten wird Deutschland sein Budget zum Einhalten der 1,5 Grad Grenze sicher verfehlen. Damit würden alle demokratischen Parteien im Bundestag auch ein großes Versprechen gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern brechen.
Doch neben dem politischen Versagen gibt es auch noch einen Energiekonzern, der Treiber dieser Zerstörung ist. Die RWE Power AG betreibt mit dem Tagebau Garzweiler die größte CO2-Quelle Europas und ist aktuell auf Platz 1 der größten CO2-Emittenten unter den DAX-Unternehmen.
Auch weltweit gesehen macht dieser Konzern keine gute Figur: 70 Prozent der Emissionen werden von 100 Unternehmen ausgestoßen – RWE belegt auf dieser Liste Platz 41. Wer Dörfer für Kohle im Jahr 2022 weiter abbaggern will, kann das auch mit einer laschen "Growing Green"-Strategie nicht wieder gut machen.
Doch was heißt nun eigentlich "Über Lützerath werden die Gerichte entscheiden"? Eckardt Heukamp, der letzte Bauer in Lützerath, sowie zwei weitere Bewohner des Dorfes klagen gegen ihre Enteignung durch RWE und das Land Nordrhein-Westfalen. Kurz gefasst ist dies nach Aussage der Rechtsanwältin Dr. Roda Verheyen nicht zulässig, da das Gemeinwohl im Jahr 2022 und mitten in der Klimakrise nicht nur auf einer lückenlosen Energieversorgung beruht, sondern auch die durch die CO2-Emissionen gefährdeten Freiheitsrechte mit einbezieht.
In diesen Tagen wird das Oberverwaltungsgericht Münster über die vorzeitige Inbesitznahme durch RWE entscheiden, doch die Nachbesserung des Klimaschutzgesetzes und die Obergrenze von Emissionen bis zur 1,5 Grad Grenze stehen dem Willen von RWE in jedem Fall gegenüber.
In Lützerath passiert somit im Kleinen das, was die Klimagerechtigkeitsbewegung global kritisiert. Die Politik ignoriert aktiv wissenschaftliche Fakten und befeuert die Klimakrise weiter für wirtschaftliche Interessen. Doch noch steht Lützerath und stellt damit aktuell einen möglichen Wendepunkt für uns alle dar: Sollte das Dorf erhalten bleiben, würde damit endlich wissenschaftliche Erkenntnis ernster genommen als Profitinteressen großer Konzerne.
Die neue Bundesregierung hat das Einleiten dieses Wendepunktes leider erneut verpasst, und so bleibt es zunächst in den Händen des Gerichtes, was aus diesem Wendepunkt wird. Am Ende liegt es aber vor allem in den Händen der Aktivistinnen und Aktivisten, die seit Monaten für den Erhalt von Lützerath kämpfen – und damit auch Teil des weltweiten Kampfes gegen die Klimakrise sind.