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Wieso wir Tierversuche nicht verbieten können

Ein Stoffhase und ein Schild mit der Aufschrift „"R.I.P. Little bunny died in LPT“" liegen während einer Demonstration auf dem Bürgersteig am Jungfernstieg gegen die Wiederaufnahme von Tierv ...
Das Unternehmen LPT mit Sitz in Neugraben bei Hamburg war weltweit bekannt geworden, weil Tierschützer grauenvolle Quälereien an den Versuchstieren dokumentierten. Bild: dpa / Georg Wendt
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Es bringt wenig, sich über Tierversuche zu empören – und viel, an ihrer Überwindung zu arbeiten

14.02.2022, 14:2414.02.2022, 14:32
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Debatten um Tierversuche spalten die Gemüter seit Jahrzehnten: Wessen Leben, wessen Leid zählt mehr? Das der Menschen, deren Schmerzen und Krankheiten durch Medikamente, die durch Tierversuche entwickelt wurden, behoben und geheilt wird? Oder das der Tiere, die zum Teil schwer belastenden Versuchen unterzogen werden?

Bei einer Volksabstimmung am 13. Februar konnten die Bürgerinnen und Bürger aus der Schweiz über genau diese Frage abstimmen. Das Ergebnis war eindeutig: 79 Prozent der Stimmberechtigten stimmten gegen ein allgemeines Verbot von Tier- und Menschenversuchen. Das war zu erwarten. Zwar ist der erste Reflex bei Tierversuchen erst einmal Ablehnung – doch bei genauerer Betrachtung ändern viele Menschen ihre Meinung.

"Was würde ein allgemeines Tierversuchsverbot aussagen über unsere Solidarität mit schwerkranken Menschen, die auf Medikamente, Impfungen oder neue operative Verfahren angewiesen sind?"

Der Grund: In der medizinischen Forschung gibt es auch heute noch immer nicht genügend Alternativen. Ein Verbot von Tierversuchen könnte deshalb indirekt zu mehr Todesfällen bei Menschen führen. Müsste die eigentliche Frage nicht also lauten: Was würde ein allgemeines Tierversuchsverbot aussagen über unsere Solidarität mit den Probanden, die sich ersten klinischen Test unterziehen sowie den schwerkranken Menschen, die auf Medikamente, Impfungen oder neue operative Verfahren angewiesen sind?

Schmerzhaft zu spüren bekommen hätten wir ein allgemeines Verbot auch bei der Forschung nach Impfstoffen gegen das Coronavirus. Denn um einen Impfstoff auf den Markt zu bringen, sind Tierversuche vorgeschrieben. So müssen die Forschenden anhand sogenannter präklinischer Studien aufzeigen, dass von den Impfstoffen keine Lebensgefahr ausgeht, dass die Stoffe tatsächlich wirken wie erhofft und Menschen keine körperlichen Schäden davontragen. Sprich: Würden wir auf Tierversuche verzichten, würden wir das Leben freiwilliger Probanden riskieren. Und zudem das all derjenigen, die ohne die Coronaschutz-Impfung verstorben wären.

Tierversuche, um uns Menschen von Covid-19 zu heilen?

Und auch darüber hinaus verdanken wir den Erkenntnissen aus Tierversuchen einen immensen medizinischen Fortschritt. Zahlreiche Krankheiten wie Krebs, Diabetes, Aids oder Tuberkulose können wir heute nur deshalb behandeln oder gar heilen, weil Forschende Wirkstoffe und medizinische Verfahren zuvor an Tieren erprobt hatten. So wurden unter anderem künstliche Herzklappen an Schafen getestet und das Diabetes-Medikament Insulin an Schweinen. Aktuell sind Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts dabei, ein höchst-wirksames Medikament gegen Covid-19 zu entwickeln – mithilfe von drei Alpakas, denen die Forschenden wiederholt Teile des Spike-Proteins des Coronavirus spritzen.

Auch für die Grundlagenforschung, die Medizinern dazu verhelfen soll, den menschlichen Organismus besser zu verstehen, sind Tierversuche laut Biologen und Ärztinnen unabdingbar.

"So besteht in der EU seit 2013 ein umfassendes Tierversuchsverbot für Kosmetika. Zum Glück – denn dass Tiere unserer Schönheit wegen leiden müssen, geht definitiv zu weit."

Die Regeln, wann und in welcher Form Tierversuche durchgeführt werden dürfen, sind auch heute schon streng. So besteht in der EU seit 2013 ein umfassendes Tierversuchsverbot für Kosmetika. Zum Glück – denn dass Tiere unserer Schönheit wegen leiden müssen, geht definitiv zu weit. Laut dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) gilt ansonsten das 3R-Prinzip: Replacement, Reduction, Refinement. Tierversuche sollen demnach möglichst vollständig vermieden – und bei unvermeidlichen Versuchen sollen die Zahl der Tiere reduziert und ihr Leiden beschränkt werden.

Dieser Ansatz ist selbsterklärend, zumal vermutlich auch die meisten Forschenden Tierversuche so weit wie möglich reduzieren wollen. Warum sollte ein Tier leiden müssen, wenn es auch andere Forschungsmöglichkeiten gibt? In der Praxis funktioniert das allerdings nur semi-gut. Seit vielen Jahren hat sich die Zahl der Tierversuche in Deutschland – anders als in der Schweiz, wo sie stark gesunken ist – auf einem weitgehend gleichbleibenden Niveau eingependelt.

Trotz neuartiger Multi-Organ-Chips, sogenannten Miniatur-Organmodellen, die miteinander verbunden werden können und zum Teil zuverlässige Vorhersagen über die Wirkung von Medikamenten oder Impfungen treffen können. Das Problem: Laut zahlreichen Forschenden haben diese Chips ihre Grenzen und können Tierversuche nicht ersetzen.

Die Hoffnung ruht auf "Chip-Patienten" – einem Double des menschlichen Organismus

Währenddessen arbeiten Forschende an einem Chip-Patienten der Zukunft, einem Double des menschlichen Organismus. Alle Organe eines Menschen werden hierfür auf einem Chip zusammengefasst, sodass individuell geprüft werden kann, wie gut ein Medikament bei diesem bestimmten Menschen anschlagen würde. Diese medizintechnische Revolution würde klare Aussagen liefern und damit einen großen Teil der entsprechenden Tierversuche ersetzen können.

Und nicht nur das: Der Chip könnte ganz generell dazu beitragen, Medikamente und medizinische Eingriffe zu verbessern. Denn auch heute noch sind Frauen bei der medizinischen Versorgung häufig im Nachteil. Ob physiologisch, hormonell oder anatomisch: Prototyp des menschlichen Organismus ist noch immer der Mann. Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen sind oft die Folge. Ein Mini-Chip, der individuell auf biologische Unterschiede eingehen kann – ob nun Größenunterschiede von Männern und Frauen generell, denen ihrer Organe, ihrem Stoffwechsel, Wassereinlagerungen und Fettgewebe oder ihrer Zellen – könnte auch die medizinischen Möglichkeiten für Frauen deutlich verbessern.

"Der Mini-Mensch auf dem Chip verfügt weder über ein Bewusstsein, noch empfindet er Schmerzen. Damit wären wir nicht nur einen großen Schritt weiter beim Behandeln von Krankheiten, wir wären auch noch solidarisch gegenüber den Tieren, Probanden und Schwerkranken."

Vielleicht sollten wir aufhören, darüber zu diskutieren, ob es nun ethisch korrekt ist oder nicht, Tierversuche durchzuführen, sondern stattdessen unsere Energie darauf verwenden, diese obsolet zu machen. So surreal es auch klingen mag, einen Menschen durch 3D-Technologie, Zellproben samt ihrer Kultivierung "nachzubauen", so großartig wäre es auch. Denn eine Sache wäre damit endgültig geklärt: Der Mini-Mensch auf dem Chip verfügt weder über ein Bewusstsein, noch empfindet er Schmerzen. Damit wären wir nicht nur einen großen Schritt weiter beim Behandeln und Heilen von Krankheiten, wir wären auch noch solidarisch gegenüber den Tieren, Probanden und Schwerkranken.

Denn sind wir doch mal ehrlich: Tierversuche findet niemand toll. Wer aber seit Wochen beatmet wird und aufgrund von Corona im künstlichen Koma liegt, dessen Liebsten hoffen insgeheim doch inbrünstig darauf, dass die Forschenden endlich Erfolg haben mit ihrem Medikament zur Heilung von Covid-19. Ob nun mit Tierversuchen oder ohne.

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