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Urlaub, Fleisch, Konsum: Hört auf, euch aus der Verantwortung zu stehlen

ARCHIV - Viele würden auch anders: Doch die Realität ist, dass der Anteil an Flugreisen laut neuesten Erhebungen bei deutschen Urlaubern so hoch wie nie liegt. (zu dpa: «Folgt auf die Flugscham der Zu ...
In den Urlaub fliegen – ohne schlechtes Gewissen? Wo ist die Flugscham geblieben?Bild: dpa / Federico Gambarini
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Urlaub, Fleisch, Konsum: Jeder hat eine Verantwortung

Die Urlaubssaison geht bald wieder los, die Flughäfen werden wieder voll. Flugscham? Ach was, das ist sooo 2018. Doch warum eigentlich?
10.06.2025, 18:5110.06.2025, 18:51
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"Das System, Politik und Hartz IV: Egal woran es liegt, es liegt nicht an mir."

Die Band Kraftklub arbeitet sich in derlei Zeilen, in diesem Fall aus dem Song "Karl-Marx-Stadt", normalerweise an rechten Menschen ab, die ihren Frust in Jammereien und Rassismus zum Ausdruck bringen.

Doch ebenso lassen sich speziell die obigen Lyrics auch auf ein Phänomen in Kreisen, die der Band traditionell näher stehen, anwenden: Verantwortung für das eigene Handeln, etwa beim Thema Klimaschutz, wird unter Linken gerne mit einem routinierten Hinweis auf das System Kapitalismus, die Politik und die Unternehmen weggewischt.

Mir, selbst ein Linksliberaler bis Linker, geht diese selbstgerechte Attitüde schon seit Jahren gegen den Strich. Klima, Natur, humanitäre Tragödien: Alle sind sich einig, dass es riesige Krisen gibt und dass jemand etwas tun müsste – zynisch gesagt: alle – außer wir selbst.

Klimakrise: "Welchen Einfluss habe ich schon?"

Wir alle wissen, wie schlimm es bei der Klimakrise aussieht. Und wie es ums Artensterben steht. Das Waldsterben zudem, die Sauberkeit unserer Meere, die Ausbeutung von Arbeiter:innen für unsere Smartphones, Avocados, Bananen und Sneaker. Dennoch wandert der Zeigefinger vage in die Ferne, wenn es darum geht, etwas zu ändern.

"Was nützt es, wenn Deutschland alleine seine Klimaziele einhält, während der Rest der Welt nicht mitmacht?", fragen konservative Stimmen oftmals provokativ. "Welchen Einfluss habe ich schon alleine, wenn der Kapitalismus weiterrollt?", philosophieren wiederum progressive Freund:innen von mir.

"Trauen wir wirklich den Trumps, Putins, Mileis und Melonis dieser Welt zu, die notwendigen Schritte einzuleiten? Trauen wir das wirklich Friedrich Merz zu?"

Auch wenn diese Fragen eine Wahrheit in sich tragen, können sie doch nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Wir können doch nicht ernsthaft alle Verantwortung von uns weisen und stets auf den unsichtbaren Riesen, die da oben, die Reichen und Mächtigen, das Kollektiv zeigen. Wir gehören doch dazu.

Politik, Konzerne und wir: Alles hängt zusammen – und alle zählen

Es gibt kein Kollektiv ohne Individuen, keinen Staat ohne Bürger:innen, keine Politik ohne Volk, keine Unternehmen ohne Konsument:innen.

Wir – du, ich und alle anderen Privatpersonen – bilden die Zivilgesellschaft, welche die Politik beeinflusst. Die großen Entscheidungen fällen zwar andere, die Unterschrift unter wichtige Vereinbarungen setzen nicht wir.

Doch auch wir haben politisches Werkzeug zur Hand, und zwar nicht nur unser Kreuz auf dem Wahlzettel. Es startet beim eigenen Hinterfragen des Flug-, Ess- und Konsumverhaltens, geht weiter mit Gesprächen in Freundes- und Bekanntenkreisen, führt über das Zusammenschließen zu Protesten und endet in einem kollektiven Bewusstsein in der Öffentlichkeit – das wiederum die Politik zu Schritten bewegen kann.

Das klingt zwar unfassbar idealistisch. Seit Greta Thunberg (Like, wer sie noch als bemerkenswerte Klimaaktivistin kennt) wissen wir aber, wie wichtig Awareness ist und was für einen Impact ein Mensch allein aus irgendeinem random Kaff haben kann.

Ohne Greta Thunberg hätte es Fridays for Future nicht gegeben, ohne FFF wiederum wohl keinen vorgezogenen Kohleausstieg und womöglich kein deutsches Klimaschutzgesetz.

Klimakrise drängt: Richten es Trump, Putin, Merz und Meloni?

Und gerade jetzt sind wir gefragter denn je. Einer neuen Studie zufolge brechen wir die 1,5-Grad-Marke schon 2028. Welche Folgen drohen, wurde schon eine Million Mal wiederholt: Extremwetter, Hitzetote, Artensterben, Klimaflüchtlinge, jährliche wirtschaftliche Schäden in Billionen-Höhe.

Die Erde brennt und es braucht nicht nur eine kollektive, sondern auch eine sehr schnelle Kraftanstrengung, um eine Riesen-Katastrophe abzuwenden und womöglich auf ein lediglich mediokres Ausmaß zuzusteuern. Trauen wir wirklich den Trumps, Putins, Mileis und Melonis dieser Welt zu, die notwendigen Schritte einzuleiten?

Trauen wir das in Deutschland wirklich Friedrich Merz zu? Dem Mann, der das Verbrenner-Aus in der EU aufheben will? Der mit wissenschaftsfernen Aussagen zu Atomkraft und Kernfusion auffällt? Der Windräder für "hässlich" hält und sie eines Tages "wieder abbauen" möchte?

Am Ende solcher Diskussionen steht aber zumeist die Frage: "Aber warum soll ausgerechnet ich mich einschränken, wenn diejenigen, die mit Abstand den größten Anteil an der Klimakrise haben, nichts tun?"

Kapitalismus verändern? Sorry Erde, wir brauchen noch Zeit

Als Mittel- oder auch Unterschicht im Westen tragen wir viel weniger Verantwortung als Vielflieger wie Taylor Swift und Lobby-Kuschler wie Trump. Und ja, es war mit BP ausgerechnet ein Öl-Konzern, der den CO2-Fußabdruck erfand, um mit einer millionenschwerem PR-Kampagne von der eigenen Klimabilanz abzulenken.

Dennoch leben wir als gut situierte Menschen im Westen – egal welcher sozialen Schicht – auf dem Rücken ausgebeuteter Menschen im globalen Süden. Viele von ihnen sind existenziell von der Klimakrise bedroht und könnten sich wiederum fragen: "Warum soll ich mich einschränken, wenn die verwöhnten Deutschen nichts tun?"

Natürlich kann man sich endlos darin suhlen, wie unfair behandelt man sich fühlt. Dennoch ist es eine moralische Bankrotterklärung, wenn das Resultat dieser Gerechtigkeits-Rechnung lautet: "Ich würde ja mehr tun – wenn die anderen mehr tun."

Dann lass uns halt warten, bis die kapitalistischen Strukturen verändert, die Konzerne entmachtet und der Planet auf gerechte Art und Weise gerettet wird. Wird safe passieren und dauert auch bestimmt nicht lang. Bis dahin können wir ohne schlechtes Gewissen hunderte Tonnen CO2 verfliegen und Fleisch aus Massentierhaltung genießen, schließlich sind wir ja nicht Schuld.

In diesem Sinne: Frohe Ferien und eine schöne Reise-Saison – in der ich ebenfalls fliegen werde.

Moment, was?

Go on an adventure! Suitcase near window at the airport. Concept of lost baggage.
Jep, auch ich fliege diesen Sommer einmal in den Urlaub. Mit im Koffer: mein schlechtes Gewissen.Bild: iStockphoto / Choreograph

Schuld sind wir alle – vor allem, wer sich nicht hinterfragt

Ganz richtig, auch ich fliege in diesem Sommer. Ja, es gibt Umstände. Und nein, es ist keine Langstrecke. Niemand zwingt mich dazu, es ist meine eigene Entscheidung und es wäre zu vermeiden gewesen.

Weder mir noch anderen möchte ich das Fliegen verbieten. Doch unser Konsum, das System, das dahinter steckt, die Ausbeutung, die einem ein bestimmtes Produkt, eine bestimmte Dienstleistung oder einen günstigen Preis ermöglicht: Das sind alles Dinge, die man – die ich – ständig hinterfragen muss, statt mir von vornherein durch einfache Ausreden moralische Absolution zu verleihen.

Und ja, das macht einen Unterschied. Denn wenn ich mich für mein Verhalten nicht schäme, werde ich es auch nicht ändern.

Keine Verantwortung, keine Gerechtigkeit, kein Einfluss: Sorry, das sind Ausreden. Der Zeigefinger muss sich vor allem nach oben richten – aber auch auf uns selbst.

Europaweite Bahnreisen sollen nutzerfreundlicher werden
Die gute Nachricht: Die Deutsche Bahn verspricht, dass die Buchung von Bahnfahrten ins europäische Ausland deutlich leichter werden soll. Die schlechte: Es ist immer noch erlaubt, dass Fahrgäste ihre Schuhe ausziehen.

Wer sich traut, Carsten Linnemann und Friedrich Merz nach dem Schulabschluss tief in die vorwurfsvollen Augen zu schauen, sich dem Arbeitsdogma der neuen Bundesregierung allen Ernstes widersetzt und den lieben Gott erst einmal einen guten Mann lassen möchte, anstatt Deutschland aus der Rezession zu schaufeln, der fährt vielleicht Bahn. Weg hier, in ein Land, in dem die geforderte Erhöhung der Arbeitszeit vermutlich zu lichterloh brennenden Autos am Stadtrand führen würde. Nach Frankreich vielleicht, da soll es schön sein.

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