Ob vom Wedding nach Neukölln, von Friedrichshain nach Moabit oder von Charlottenburg nach Treptow: Man muss in Berlin schon richtig Pech haben, wenn man länger als zehn Minuten auf die nächste Bahn dorthin warten muss. Der öffentliche Nahverkehr schlängelt sich praktisch rund um die Uhr durch die Hauptstadt. Auf die Idee, sich mit dem Auto durch die verstopften Straßen zu quälen, kommen da die wenigsten. Nur 17 Prozent der Fahrten innerhalb des S-Bahn-Rings werden deshalb mit dem Auto gemacht. Ein eigenes Fahrzeug haben nur wenige, die innerhalb dieser Zone wohnen. Und wenn doch steht es im Durchschnitt 23 Stunden am Tag unbenutzt am Straßenrand.
Warum die Autos also nicht gleich aus der Innenstadt verbannen? Gründe dafür gibt es genug: Autos nehmen Platz weg, der in Parks, Spielplätze oder Fahrradwege verwandelt werden könnte, heizen den Klimawandel an und stellen nicht zuletzt ein Gesundheitsrisiko dar. Fast wöchentlich stirbt ein Mensch im Berliner Straßenverkehr, die Luftverschmutzung führt in Deutschland ebenfalls zu vielen vorzeitigen Todesfällen.
Das will die Initiative "Berlin autofrei" ändern. Die Gruppe aus rund 100 Ehrenamtlichen hat dafür am Mittwoch einen 48-seitigen Gesetzesvorschlag bei der Innenverwaltung des Berliner Senats eingereicht. Das Ziel: Autos mithilfe eines Volksentscheids weitestgehend aus dem 88 Quadratkilometer großen Berliner S-Bahn-Ring verbannen. Und so die größte autofreie Zone der Welt erschaffen.
"Schon heute werden drei von vier Wegen mit dem ÖPNV, zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt, aber 60 Prozent der Fläche in der Stadt gehört den Autos", sagt Nina Noblé bei einer Pressekonferenz der Initiative. "Das ist völlig unverhältnismäßig." Der öffentliche Raum gehöre schließlich allen, nicht nur den Autofahrern. "Eine autoreduzierte Stadt stellt die Menschen in den Mittelpunkt. Damit steht nicht mehr der schnellste und stärkste im Vordergrund", sagt Noblé. Menschen sollen wieder bei offenem Fenster schlafen, Kinder auf der Straße spielen, Senioren sicher unterwegs sein können, so die Vision.
Eigentlich, argumentieren die Initiatoren, würde sich bei nur 17 Prozent der Fahrten mit dem Auto durch die Innenstadt gar nicht so viel ändern. Und für diejenigen, die auf ein Auto angewiesen sind, soll es ohnehin Ausnahmen geben, so dass es sich am Ende mehr um eine autoreduzierte denn um eine autofreie Zone handeln würde.
Handwerker müssen ihre Werkzeugkoffer natürlich nicht mit in die U-Bahn schleppen, ebensowenig muss der neu gekaufte Kleiderschrank von Ikea damit nach Hause befördert werden. Menschen, die mobil eingeschränkt sind, sollen ebenso von dem Gesetz ausgenommen werden wie Taxis und Lieferverkehr. Und wer mit vollem Picknickkorb einen Sonntagsausflug an einen mit öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht erreichbaren See in Brandenburg unternehmen möchte, soll dafür ebenso eine Sondergenehmigung bekommen wie beispielsweise Krankenpfleger, die sich unwohl dabei fühlen, nach der Spätschicht am dunklen U-Bahnhof auf ihre Bahn zu warten.
Nur: Wer entscheidet, darüber, welche Ausnahme gerechtfertigt ist? Ab welcher Uhrzeit ist es legitim, sich auf dunklen Straßen unwohl fühlen? Ist es zumutbar, den Bus an den See zu nehmen, auch wenn dieser zwei Stunden länger ans Ziel braucht? Und hat das nicht alles einen enormen bürokratischen Aufwand zur Folge? Unkomplizierte, schnelle Lösungen waren in der Vergangenheit jedenfalls nicht die Stärke der Berliner Verwaltung.
Die Initiatoren von "Berlin autofrei" halten dagegen. "Wir halten den Verwaltungsaufwand für sehr gering", sagt Manuel Wiemann. Wer wie Handwerker oder Zulieferer regelmäßig in die Innenstadt muss, soll eine dauerhafte Genehmigung in Form einer Plakette erhalten. Und wer spontan ins Möbelhaus fahren möchte, soll nicht erst auf eine Genehmigung warten müssen, sondern online nur den Grund für die Autofahrt angeben und mit einem QR-Code sofort freie Fahrt bekommen. Die Verwaltung könne das Anliegen dann im Nachgang prüfen und im Zweifelsfall Sanktionen verhängen.
Ganz neu ist die Idee, Autos aus der Stadt zu verbannen, nicht. Auch die rot-rot-güne Regierungskoalition will die Berliner Innenstadt mittelfristig autofrei machen. Während sich vor allem die Grünen dafür stark machen und die Bürgerinitiative für den Volksentscheid als Ansporn bezeichnen, zögert die SPD aber noch. Und die oppositionelle FDP kritisierte das Vorhaben als einen zu weitreichenden Eingriff in die freie Entscheidung der Bürger.
Den Ehrenamtlichen hinter "Berlin autofrei" geht die Arbeit des Senats aber ohnehin nicht weit und nicht schnell genug. "Der Senat hat kein sinnvolles Konzept für eine zukunftsweisende und gerechte Verkehrswende", kritisiert Manuel Wiemann. Um ihre eigenen Pläne umsetzen zu können, gehen sie deshalb juristisch einen völlig neuen Weg. Durch das geplante Gesetz sollen die Straßen innerhalb des S-Bahn-Rings umgewidmet werden und so dem ÖPNV, Radverkehr und den Fußgängern vorbehalten sein.
"Das gab es so noch nie", sagt der Jurist Paul Friedl, der sich ebenfalls in der Initiative engagiert. Weil sich diese Umwidmung auf das Straßenrecht und nicht das Straßenverkehrsrecht beziehe, liege die Kompetenz beim Land Berlin und nicht beim Bund. Bundesstraßen, die durch die Berliner Innenstadt führen, wären von der autofreien Zone allerdings ausgenommen.
Der erste Schritt zu dieser möglichen juristischen Neuerung ist mit dem Einreichen des Gesetzes bei der Innenverwaltung gemacht. Diese hat nun zwei Monate Zeit für eine amtliche Kostenschätzung. Zwischen April und Juni sollen dann 20.000 Unterschriften für die erste Stufe des Volksbegehrens gesammelt werden, 2023 sollen die Berlinerinnen und Berliner dann über das Gesetz an sich abstimmen können. Sollten sie sich für eine autofreie Innenstadt aussprechen, träte eine vierjährige Übergangszeit in Kraft. "Das bedeutet, dass sich der Straßenverkehr in Berlin ab 2027 verändern wird", sagt Manuel Wiemann.
In Stein gemeißelt sind die Pläne aber noch nicht, über einzelne Punkte kann und soll debattiert werden. "Wir wollen mit den Berlinerinnen und Berlinern darüber diskutieren, wie die Zukunft auf unseren Straßen aussehen soll", so Wiemann.
Nicht nur für begeisterte Autofahrer dürften die Pläne für die größte autoreduzierte Zone der Welt ziemlich radikal und revolutionär sein. Aber: Warum eigentlich nicht? "Berlin ist dafür bekannt, dass wir neue Wege gehen, bevor es andere tun", sagt Nina Noblé. "Wenn wir Berlin autofrei machen und den CO2-Ausstoß deutlich reduzieren, senden wir ein starkes Signal weit über Berlin heraus."