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Europawahl 2024: Letzte Generation will Protest ins EU-Parlament bringen

Lina Johnsen und Theodor Schnarr wollen für die Letzte Generation ins EU-Parlament.
Lina Johnsen und Theodor Schnarr wollen für die Letzte Generation ins EU-Parlament.bild: watson / josephine andreoli
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Letzte Generation will nach Brüssel: "Will mir nicht vorwerfen, ich hätte nicht alles getan"

17.03.2024, 14:5921.03.2024, 09:28
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Ungerechtigkeiten beseitigen, einen Beitrag für eine bessere Welt leisten – diese Mission hatten Lina Johnsen (26) und Theodor Schnarr (33) seit sie kleine Kinder waren. Heute, über 20 Jahre später, ist das noch immer ihr Antrieb. Mehr noch: Als Aktivist:innen der Letzten Generation ist diese Mission zu ihrem Lebensinhalt geworden, dem sie alles andere unterordnen.

Denn eigentlich hatte Lina einen Plan: Erd- und Umweltwissenschaften studieren – und dann mit dem Wissen die Welt verbessern. In einer NGO, ganz klassisch also. "Es war eine ziemlich schmerzhafte Erfahrung für mich, als mir irgendwann der Gedanke kam, dass das überhaupt nicht reicht, dass meine Arbeit dort nicht den wesentlichen Unterschied machen wird", sagt Lina.

Angst vor Folgen der Klimakrise: Warum ein "Weiter so" nicht funktioniert

Ihr wird klar: Es braucht eine größere Transformation. Es braucht mehr als das, was sie mit ihrer Arbeit bei einer NGO erreichen kann.

Mit einem Mal sieht sie überall Warnhinweise aufleuchten, die unterstreichen: Du musst etwas tun. Jetzt. Da ist der Sticker an ihrem Uni-Spind, auf dem in großen Lettern steht: "Die Klimakatastrophe wartet nicht, bis du mit deinem Studium fertig bist." Und vor allem – da ist dieser Moment, als sie gerade für ein halbes Jahr mit dem Motorrad durch Kambodscha und Vietnam reist, der ihr vor Augen führt, wie groß und unberechenbar die Klimakrise ist.

"Ich habe richtig gemerkt: Fuck, mir entgleitet die Kontrolle."
EU-Spitzenkandidatin von der Letzten Generation, Lina Johnsen

Es ist das Jahr 2016. Lina schwimmt im Meer, als eine Plastikflasche auf sie zutreibt, wie sie erzählt. Sie greift danach, doch plötzlich taucht eine weitere Flasche vor ihr auf, und noch eine. Lina packt sie alle drei, doch die Strömung wird stärker. Sie muss die Flaschen wieder loslassen – und sieht weitere an sich vorbeiziehen, auch der ganze Strand ist voller Müll. "Ich habe richtig gemerkt: Fuck, mir entgleitet die Kontrolle."

In den Meeren treibt tonnenweise Plastikmüll.
In den Meeren treibt tonnenweise Plastikmüll.bild: pexels

Mit dieser Realisation bricht für Lina eine Welt zusammen. Ihre Zukunftspläne – ergeben keinen Sinn mehr. Die Hoffnung auf eine schöne, heile Welt – vergessen.

Die Tage ziehen an ihr vorbei, die Probleme erscheinen von Tag zu Tag größer. "Ich habe mich so ohnmächtig gefühlt." Auch ihr Engagement und die Spenden bei Greenpeace und Rescue, die Demos und Aktionen von Fridays for Future und Extinction Rebellion tragen nicht dazu bei, dass es ihr besser geht.

Letzte Generation: Aktivismus bringt Lina und Theo Wirkmacht zurück

Bis sie 2021 bei der Letzten Generation landet. Und endlich Wirkmacht erfährt. "Es war die erste Ermächtigung, die ich wieder gespürt habe, weil mir klar geworden ist, dass ich nicht nur zusehen und resignieren muss, sondern dass ich mich der Verdrängung stellen und aktiv etwas tun kann." Also steigt Lina voll bei der Letzten Generation ein.

Neben ihrem Studium klebt sie sich auf der Straße fest, kämpft für eine gerechtere Welt. Wie sie es geplant hatte – nur anders.

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Auch Theo hatte andere Pläne für sein Leben. Er macht gerade seinen Doktor in Biochemie und hatte sich schon darauf gefreut, als "chaotischer Wissenschaftler" im Labor zu tüfteln. Doch die Klimakrise macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Die Krise war so groß, die Folgen so vehement – er konnte nicht weitermachen wie bisher. Der Protest der Letzten Generation, ist er überzeugt, habe mehr Wirkmacht als seine wissenschaftliche Karriere. Zumindest für den Moment.

Climate activist Theodor Schnarr, second left, blocks a road with other activists during a climate protest in Berlin, Germany, Friday, April 28, 2023. Climate activists staged a tenth straight day of  ...
Wieder und wieder klebt Theo sich mit anderen Aktivist:innen auf die Straße. Bild: AP / Frank Jordans

Also pausiert er seine Doktorarbeit, klebt sich gemeinsam mit seiner Frau auf die Straße. Immer und immer wieder. "Mir tut es einfach weh, dass immer mehr Leute sagen: 'Jetzt ist es doch eh zu spät.' Was ist denn das für eine lahme Ausrede?" Theo schüttelt den Kopf, schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen.

"Wir leben in einer Welt umgesetzter Utopien."
EU-Spitzenkandidat für die Letzte Generation, Theodor Schnarr

Einen Moment ist er still. "Vor allem für uns, hier im privilegierten Deutschland." Seine Stimme wird lauter, überschlägt sich fast. Er sucht nach den richtigen Worten. "Was ist denn das für eine Art? Nee, so ist das nicht. Wir leben in einer Welt umgesetzter Utopien." Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, erschrickt fast selbst an der Heftigkeit seiner Gefühle.

Es sei noch nicht lange her, da durften Frauen noch nicht wählen gehen, oder ein eigenes Bankkonto eröffnen. "Aber das ist jetzt alles Realität – weil mutige Menschen vorangegangen sind."

Letzte Generation ohne Klebeproteste: Warum sie ins EU-Parlament wollen

Genau das wollen auch Lina und Theo jetzt tun. "Veränderungen kommen so oder so, aber wir können dazu beitragen, dass sie zu einer besseren und gerechteren Welt führen und uns nicht übermannen", sagt Lina.

Mit ihren Klebeprotesten, davon sind die beiden überzeugt, haben sie das Thema Klimakrise mitten in die Gesellschaft gebracht. Auch, wenn die Proteste viele verärgert haben mögen. "Wir sind mittlerweile so viele, dass wir das Ankleben nicht mehr brauchen. Wir machen den Widerstand zugänglicher für alle." So wollen sie erreichen, dass sich ihnen auch Menschen anschließen, "die sich vielleicht nicht getraut haben, sich auf die Straße zu kleben", sagt Lina.

Mit öffnen meint sie: ungehorsame Demonstrationen, bei denen jede:r so weit gehen kann, wie man sich traut, statt Klebeprotesten – und die Kandidatur der beiden für die Europawahl im Juni. Ihr Ziel, oder besser Angebot, wie Theo betont: "Wir bringen den Protest ins Parlament. Wir fangen eben nicht an, politische Arbeit anzustoßen, sondern wollen Ungerechtigkeiten klar benennen."

Den Elefanten im Raum – unausgesprochene Wahrheiten.

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Der Regenwald in Brasilien steht kurz davor, zu kippen. bild: Markus Mauthe

Aber was meinen sie damit eigentlich?

Lina fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden. Immer wieder fängt sie einen Satz an, um ihn dann doch nicht zu beenden. Dann erklärt sie:

"Es hört sich vage an, aber viele Menschen sind dem Leben gegenüber nicht demütig genug und checken nicht, dass wir das nur gemeinsam schaffen. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir unseren Protest in alle Bereiche der Gesellschaft reintragen, wo wir uns eine Bühne für das Aufzeigen der Menschheitskatastrophe nehmen können – und so versuchen wir den Protest jetzt auch ins EU-Parlament zu tragen. Und zwar so, dass man uns nicht ignorieren kann."

Wie dieser Protest am Ende aussehen wird? Lina und Theo prusten los: "Das wird eine Überraschung."

Die Idee, fürs Europa-Parlament zu kandidieren, kam der Letzten Generation durch ihre Schwesterkampagne in Schweden. Auch dort hatten Aktivist:innen fürs Parlament kandidiert – damals ohne Erfolg. "Wir wissen, dass die Zeit knapp ist. Aber wir haben nichts zu verlieren, wir haben nur zu gewinnen – deswegen probieren wir es einfach", sagt Lina.

Ihr Vorteil gegenüber den anderen Parteien? "Wir wollen keine politische Karriere machen", sagt Theo. Auch auf einen Wahlkampf werden sie verzichten. Sein Appell an die Wähler:innen: "Ihr wollt Protest im Parlament? Das sind wir. Dafür stehen wir."

Warum es zivilen Widerstand braucht

Dass ausgerechnet die beiden ins EU-Parlament ziehen sollen, hat sie selbst überrascht. "Ich dachte nur: Was – ich?", ruft Theo aus. Das "was" zieht er in die Länge. Er fängt an zu lachen, Lina stimmt mit ein. Auch sie kann es noch immer kaum fassen. "Ja, das war nie mein anfänglicher Plan und ich selbst wäre zunächst nicht auf die Idee gekommen, mich dafür vorzuschlagen. Aber wir müssen jetzt alle Aufgaben übernehmen, von denen wir früher nicht gedacht hätten, dass sie mal auf uns zukommen würden", meint Lina.

Die Angst vor dem, was an klimatischen Folgen droht, komme in Wellen. "Aber ich fühle mich nicht mehr ohnmächtig. Ich tue gerade alles, was ich kann." Einen Moment hält Lina inne, atmet tief ein und schüttelt den Kopf. "Ich will mir in 20 Jahren von meinen vielleicht zukünftigen Kindern nicht vorwerfen lassen, ich hätte nicht alles getan."

Dieser Gedanke treibt Lina an, gibt ihr Kraft, wenn die Krisen wieder einmal Überhand nehmen. "Und außerdem, ehrliche Frage: Was, wenn nicht ziviler Widerstand, hat größere Erfolgschancen, was Grundlegendes zu reißen?"

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