Vor rund zwei Jahren begann die Letzte Generation mit ihren Straßenblockaden. Die Devise der Klimaaktivist:innen: Friedlich stören, um eine radikale Klimawende durchzusetzen. Damit erregte die Gruppe viel Aufmerksamkeit – und Hass. Autofahrer gingen auf die Aktivist:innen los, schlugen, traten und bespuckten sie.
Ende Januar verkündete die Letzte Generation dann, die Klebe-Blockaden zu stoppen und stattdessen in anderer Form zu protestieren – mit ungehorsamen Versammlungen. Die Aktivist:innen wollen also auf Masse setzen, statt auf kleinere Grüppchen, die vereinzelt Straßen blockieren.
Und als wäre dieser Strategie-Wechsel nicht genug, verkündete die Letzte Generation Anfang Februar schließlich auch noch, Kandidat:innen zur Europawahl aufstellen zu wollen.
Reichen Proteste allein also doch nicht aus, um strengere Klimaschutzmaßnahmen auf den Weg zu bringen?
"Protestgruppen wechseln oft ihre Aktionsformen", sagt der Soziologe Philipp Knopp von der Bertha-von-Suttner-Privatuniversität, der zu Protesten und der Klimabewegung forscht, gegenüber watson. Mit der Strategie-Änderung würden die Aktivist:innen auf neue Umstände und darauf reagieren, wie Gesellschaft und Politik auf ihre bisherigen Aktionen anspringen. "Wenn man so will, ist das ein Trial-and-Error-Prinzip und ein bisschen Abschauen, was bei anderen funktioniert", ergänzt er.
In den letzten Monaten waren die Menschen zunehmend genervt von den Klebe-Protesten der Letzten Generation, auch in den Medien wurde fast nur noch über die Mittel des Protests, nicht aber die Inhalte und Forderungen gesprochen. Ein Effekt, der vermutlich eher nicht im Sinne der Aktivist:innen ist – und sie dazu gebracht hat, zu schauen, was andere Länder und Protestgruppen besser machen.
So hatten etwa Aktivist:innen der Klimabewegung Extinction Rebellion einen Monat lang die Stadtautobahn in Den Haag blockiert. Ihr Ziel? Die Streichung sämtlicher staatlicher Subventionen für fossile Brennstoffe wie Kohle, Öl und Gas. Mit Erfolg: Die niederländische Regierung steht unter Zugzwang, einen Plan zur schrittweisen Abschaffung der Subventionen vorzulegen. Bislang ist die Regierung dem aber noch nicht nachgekommen, weswegen Extinction Rebellion Anfang Februar erneut auf die Straße ging.
Die Letzte Generation will Politiker:innen fortan direkter adressieren – eine Proteststrategie, die in den USA funktioniert hat, wie Knopp berichtet.
Mit den neuen Protestformen wie auch der Kandidatur fürs EU-Parlament würden die Aktivist:innen Knopp zufolge demnach darauf abzielen, klarzumachen, dass sie keine Randgruppe seien, sondern potenziell viele Menschen mobilisieren können. Er sagt: "Man schöpft nun also mehr Mittel und Möglichkeiten aus."
Auch wenn die Letzte Generation bei der Europawahl für größere Parteien nicht zur Konkurrenz werden würde, könne sie durch einen Sitz die Möglichkeit erlangen, im Parlament zu sprechen, Gesetze einzubringen und finanzielle Mittel sowie Kontrollrechte zu erhalten. Knopp ergänzt:
Dass die Letzte Generation Wähler:innenstimmen aus Kreisen derjenigen erhält, die sich gegen die Klebe-Blockaden ausgesprochen haben, hält Knopp für unwahrscheinlich. Allerdings glaubt er, dass die Kandidatur eine gute Möglichkeit für die Aktivist:innen sei, die eigentlichen Forderungen der Bewegung wieder mehr in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen.
"Man muss ja auch erwähnen, dass die Forderungen der Letzten Generation keineswegs radikal sind", betont er. Im Gegenteil: Hinter einem sozial-gerechten Ausstieg aus den fossilen Energien bis 2030 sowie mehr Mitbestimmungsrechten stünden viele Menschen. Knopp ergänzt:
Neu oder unüblich ist die Strategie der Aktivist:innen, ihre Forderungen neben Protesten auch aus dem Parlament heraus durchzusetzen, nicht. Tatsächlich würden viele soziale Bewegungen, aber auch einzelne Aktivist:innen früher oder später den Weg in die Politik einschlagen.
Als letzte der großen Parteien sei Die Linke aus einer Protestbewegung gegen die Hartz-Reformen entstanden, wie Knopp anmerkt: "Schauen wir weiter zurück, sind auch Die Grünen und die SPD aus sozialen Bewegungen entstanden." Ein Muss sei dieser Weg aber nicht.
Zwar bringe Protest nur "sehr selten" eine direkte Entscheidungsmacht, er habe aber dennoch eine ausgesprochen wichtige Rolle: "Protest ist eine Art Seismograph für die Gesellschaft. Deswegen ist er so wichtig für Demokratien, auch weil sich Minderheiten so Gehör verschaffen können", sagt Knopp. Dazu komme noch, dass er öffentlichen Druck auf die Politik erzeuge und damit ein wichtiges Einflussmittel der Bevölkerung darstelle.
Wie wirkungsvoll Proteste sein können, wird anhand der Fridays-for-Future-Bewegung deutlich: Erst mit ihren Streiks wurde der Klimaschutz in der breiten Gesellschaft zum Thema und so ab 2019 durch Massenproteste auf die politische Agenda gehoben.
Seitdem hat sich viel getan, das Thema ist in aller Munde und zum wichtigen Wahlkampfthema geworden. Inwieweit die Letzte Generation im EU-Parlament an die mittlerweile breite Verankerung des Themas in der Gesellschaft anzuknüpfen vermag, bleibt abzuwarten.