Die vergangenen Wochen hat Bundestrainer Joachim Löw dafür genutzt, an seinem taktischen System für die Europameisterschaft zu feilen. Viele der Positionen in seiner Startelf sind bereits besetzt. Nur die Rolle von Bayern-Star Joshua Kimmich sorgt noch für Diskussionen unter Fans und Experten.
Eigentlich ist Kimmich der stärkste zentrale Mittelfeldspieler, den Deutschland momentan zur Verfügung hat. Sein Positionsspiel, seine Zweikampfführung und seine technischen Qualitäten machen ihn zum perfekten Allrounder, der vor der Abwehr für Ordnung und Struktur sorgen kann. Zugleich ist Kimmich wie dafür gemacht, einem kreativen Nebenmann à la İlkay Gündoğan oder Toni Kroos den Rücken frei zu halten.
Doch es ist gut möglich, dass Kimmich von seiner angestammten Position im Zentrum auf den rechten Flügel ausweichen muss, um eine Lücke im deutschen Spielsystem zu füllen.
Dabei muss man wissen, dass Kimmich einst seine Bundesliga-Karriere bei Bayern München als Rechtsverteidiger begann. Er kam von RB Leipzig als ausgewiesener Mittelfeldspezialist, wurde dann aber auch aufgrund mangelnder Alternativen nach rechts geschoben. Genau dieses Schicksal könnte ihm wieder ereilen.
Die Situation auf der rechten Seite im deutschen Team ist angespannt. Löw nahm mit Lukas Klostermann nur einen etatmäßigen Rechtsverteidiger mit – wobei Klostermann in der abgelaufenen Saison häufig für RB Leipzig im Abwehrzentrum spielte. Im Testspiel gegen Dänemark vor zwei Wochen durfte sich auch Matthias Ginter einige Minuten auf der rechten Seite ausprobieren. Allerdings ist der ausgebildete Abwehrspieler etwas zu staksig für den Flügel.
Denn gerade in der von Löw gewählten 3-4-3-Formation braucht es zwei antrittsstarke Außenspieler, die die komplette Seite beackern können. Robin Gosens hat das zuletzt auf links hervorragend gelöst.
Sollte nun Kimmich das Pendant zu Gosens auf rechts bilden, so wird das gemeinhin als "Verschwendung" von Kimmichs Talent interpretiert. Dabei ist im modernen Fußball eine Rolle im Mittelfeldzentrum nicht höherwertig als eine auf der Außenbahn. Die Zeiten, in denen alles über die Strippenzieher und Kreativgeister in der Mitte lief, sind längst vorbei.
Heute können auch Außenverteidiger Spielgestalter sein. Beispiele gibt es einige: Der brasilianische Linksverteidiger Marcelo etwa hat jahrelang das Offensivspiel von Real Madrid genauso stark angekurbelt wie die Mittelfeldstars Luka Modrić und Toni Kroos. Der Rechtsverteidiger Trent Alexander-Arnold gilt seit langem als Spielmacher von Liverpool und sein Ausfall bei dieser EM war ein schwerer Schlag für England.
Bundestrainer Joachim Löw erklärte auf der Pressekonferenz zum Spiel am Montag, dass er mit Kimmich noch einmal sprechen will, verriet aber nicht, wie er mit ihm plant. "Jo Kimmich hat bereits bewiesen, dass er auf unterschiedlichen Positionen spielen kann. Er kann rechts, in der Verteidigung und im Mittelfeld spielen. Er kann wie Philipp Lahm völlig problemlos auf allen Positionen spielen und liefert immer die gleiche Leistung ab.
Kimmich besitzt das Spielgestalter-Gen und kann seine Fähigkeiten eben auch auf der rechten Seite einbringen. Von dort ergeben sich für ihn womöglich sogar noch mehr Möglichkeiten, die Offensive der Deutschen zu leiten, weil sich nicht immer zwei bis drei Gegenspieler in unmittelbarer Nähe befinden.
Beim 7:1-Sieg gegen Lettland in der vergangenen Woche setzte sich Kimmich punktuell von Seitenlinie ab und zog in die Mitte, um von dort den Ball durch die gegnerischen Defensivlinien zu spielen. Es erinnerte ein wenig an Philipp Lahm und dessen Auftritte vor einigen Jahren. Immerhin war Lahm als Rechtsverteidiger mit dafür verantwortlich, dass Deutschland 2014 Weltmeister wurde.
Beim ersten Gruppenspiel gegen Frankreich am heutigen Dienstag wird es aber sowieso nicht nur auf Kimmichs offensive Qualitäten ankommen, sollte er denn von Löw auf rechts eingesetzt werden. Die hochtalentierte französische Mannschaft fährt sehr viele Angriffe über die Flügel, wo sie über mehrere Weltklasse-Dribbler verfügt. Kimmich könnte es etwa mit dem Pariser Superstar Kylian Mbappé zu tun bekommen.
Der Mönchengladbach-Profi Marcus Thuram ist ebenfalls eine Option für die linke Seite der Franzosen. Der 23-Jährige hat seine Stärken im Eins-gegen-Eins schon des Öfteren in der Bundesliga unter Beweis gestellt. Auch die omnipräsenten Paul Pogba und Antoine Griezmann könnten häufiger links und damit vor Kimmich auftauchen.
Da die Franzosen bei eigenem Ballbesitz, aber auch im Konterspiel enorme Gefahr ausstrahlen, dürfte Kimmich also nicht nur an den Vorwärtsgang denken, sondern müsste sich ebenso um die entsprechende Absicherung kümmern, damit Mbappé, Thuram, Griezmann oder Pogba nicht ungehindert auf das deutsche Abwehrzentrum zustürmen können.
Kimmich müsste also die richtige Balance finden. Zum Glück ist das eine seiner großen Stärken.