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Ex-DFL-Chef Rettig mit DFB-Kritik: "Fußball hat verpasst, den Hebel umzulegen"

Fußball: Nationalmannschaft, Freundschaftsspiel, Deutschland - Kolumbien am 20.06.2023 in der Veltins-Arena in Gelsenkirchen Nordrhein-Westfalen. Enttäuschung, Mimik, Joshua Kimmich Deutschland steht  ...
Joshua Kimmich steht nach der 0:2-Niederlage gegen Kolumbien ratlos auf dem Platz. Bild: Imago Images / Kirchner-Media
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Ex-DFL-Chef Rettig kritisiert DFB scharf: "Deutscher Fußball hat verpasst, den Hebel umzulegen"

16.08.2023, 12:04
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Das DFB-Team der Herren verliert gegen Polen (0:1) und Kolumbien (0:2) und spielt gegen die Ukraine nur unentschieden (3:3). Die Frauen um Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg scheiden bei der WM in Australien und Neuseeland bereits enttäuschend in der Vorrunde aus und die deutsche U21 blamiert sich bei der EM und wird Gruppenletzter.

Für den deutschen Fußball war es ein Sommer zum Vergessen. Während gerade auf den Frauen die DFB-Hoffnung lag, um eine Euphorie zu entfachen, enttäuscht die Herren-Nationalmannschaft in den letzten Jahren immer wieder. Bereits zweimal hintereinander schied die deutsche Nationalmannschaft um Joshua Kimmich bei einer WM in der Gruppenphase aus, dazu das Aus bei der EM im Sommer 2021 bereits im Achtelfinale.

DFB-Strategie für Nachwuchs nicht erfolgversprechend

Der deutsche Fußball sorgt schon lange nicht mehr für Euphorie im eigenen Land. Dennoch ist es Andreas Rettig wichtig, zwischen dem Fußball der Herren und dem der Frauen zu unterscheiden. Der 60-jährige Fußball-Funktionär war unter anderem Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga (DFL), leitete aber auch die Geschäfte beim SC Freiburg, dem 1. FC Köln, dem FC St. Pauli oder zuletzt bei Drittligist Viktoria Köln.

ARCHIV - 29.03.2019, Hamburg: Fu
Andreas Rettig war von 2013 bis 2015 Geschäftsführer der DFL.Bild: dpa / Christian Charisius

Im Gespräch mit watson betont er: "Alles in einen Topf zu werfen" sei ihm zu einfach. Vielmehr sei es offensichtlich, dass "der DFB in den letzten Jahren im Nachwuchsbereich der Herren keine erfolgsversprechende Strategie an den Tag gelegt" habe. Mit etwas zeitlichem Abstand ist dies nun in der A-Nationalmannschaft sichtbar. Die Frauen hingegen seien zwar enttäuschend bei der WM ausgeschieden, erreichten aber im vergangenen Jahr noch das EM-Finale.

Für das schlechte Abschneiden der Herren macht Rettig auch die Trägheit des DFB verantwortlich. "Ein großer Kritikpunkt ist, dass der DFB die Dinge zu lange vor sich hergeschoben hat und deshalb zu keinen Veränderungen gekommen ist. Als Beispiel: Im Frühjahr 2018 wurde der Impuls gegeben für das neue Konzept der Nachwuchsligen", gibt Rettig zu bedenken.

Durch das neue Konzept der Nachwuchsligen, das ab der Saison 2024/25 eingeführt wird, soll der Ergebnisdruck von den Jugend-Mannschaften der Profi-Klubs genommen werden und dadurch auch der Druck auf die Trainer. Der erhoffte Effekt: Die Jugendspieler werden individuell und mehr gefördert, weil die Mannschaften nicht mehr absteigen können. Eine gute Einführung, wie Rettig findet. Es habe nur eben viel zu lange gedauert, bis das Konzept umgesetzt wurde.

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Rettig war Ende der 90er Jahre an der Ausarbeitung des Konzepts der Nachwuchsleistungszentren, kurz NLZ, beteiligt. Er war jahrelang in der Kommission Leistungszentren des DFB, arbeitete außerdem zwölf Jahre bei Bayer Leverkusen im Jugendfußball und war an der Gründung der Freiburger Fußballschule des Sport Clubs beteiligt. Mit den NLZs, die ab 2001 verpflichtend in der Bundesliga waren und später auch in der 2. Liga, hat Rettig schon einmal den deutschen Fußball mit revolutioniert, nachdem er bei der WM 1998 und der EM 2000 am Boden war.

"Der deutsche Fußball hat irgendwann verpasst, den Hebel umzulegen."
Andreas Rettig

Rettig bemängelt aber auch einen Fehler, der sich in die Leistungszentren eingeschlichen hat. Das grundsätzliche Ziel sei es gewesen, durch die NLZs die Rahmenbedingungen für junge Fußballer zu professionalisieren. "Das hat auch geklappt und zu Erfolgen wie der Weltmeisterschaft 2014 geführt", erklärt Rettig.

Das Problem sei aber ein anderes: "Der deutsche Fußball hat irgendwann verpasst, den Hebel umzulegen. Die Devise war: Wir müssen einem 16-Jährigen alles aus dem Weg räumen, damit er sich nur auf den Fußball konzentrieren kann. Dadurch besitzen viele Spieler heute keine Widerstandsfähigkeit und suchen regelmäßig den leichteren Weg, anstatt an sich zu arbeiten und sich durchzubeißen."

Besonders auf den Jugendfußball bezogen fügte Rettig an: "Dabei ist es statistisch belegt, dass Spieler, die die längste Verweildauer im selben Klub haben, die größte Chance haben 'oben' anzukommen. Der NLZ-Tourismus muss aufhören."

DFB muss externe Inspiration suchen

Neben der Förderung der Widerstandsfähigkeit muss sich laut Rettig der deutsche Fußball aber auch an den Konzepten anderer Länder orientieren.

Schon bevor die gute Jugendarbeit mit dem WM-Titel 2014 der Spieler-Generation um Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm, Per Mertesacker oder Lukas Podolski gipfelte, kamen andere europäische Verbände nach Deutschland, um sich zu inspirieren. Besonders Frankreich und England haben daraufhin das Konzept der Jugendförderung erfolgreich weiterentwickelt.

Bastian SCHWEINSTEIGER beendet seine Karriere Archivfoto: v.li,Christoph KRAMER GER,,Benedikt HOEWEDES HWEDES GER,Bastian SCHWEINSTEIGER GER mit dem Pokal,Torwart Ron Robert ZIELER GER,Miroslav KLOSE  ...
Der Weltmeistertitel 2014 wird teilweise auch auf die Einführung der NLZs zurückgeführt.Bild: Imago Images / Sven Simon

"Unsere Aufgabe ist es jetzt, in die anderen Länder zu fahren und zu schauen, was sie anders und besser machen", schlussfolgerte Rettig gegenüber watson.

Verbindung zwischen Fans und Spielern gibt es nicht mehr

Ein zweiter Kritikpunkt, der neben der sportlichen Entwicklung von Rettig bemängelt wird, ist die fehlende Bindung zwischen den Profi-Fußballern und den Zuschauer:innen. Hier unterscheidet der ehemalige Bundesliga-Chef zwischen Männer- und Frauen-Fußball und hebt die positive Präsentation der DFB-Frauen explizit hervor. Er begründet die enorm hohen TV-Quoten der Frauen einerseits mit dem sportlichen Erfolg, andererseits aber auch mit der "Art und Weise, wie sie sich präsentiert haben". Sie zeigen sich nahbarer und bodenständiger als ihre männlichen Kollegen.

"Wenn ich an unsinnige Flugreisen der A-Nationalmannschaft denke, die 300 Kilometer überbrücken, irrsinnige Gehälter und Job-Hopping sehe, fördert das sicher keine emotionale Bindung und Identifikation", bezweifelte Rettig. Viel mehr würde den Profis dann die Bodenständigkeit fehlen, die gerade das DFB-Team der Frauen hat und weshalb die Spielerinnen so nahbar sind.

Um die Bodenständigkeit zu fördern und damit die Spieler ein Gefühl dafür bekommen, wie der Alltag von "normalen" Menschen aussieht, hatte Rettig bei seiner letzten Station, beim Drittligisten Viktoria Köln, eine Gemeinwohl-Klausel in die Verträger aller Angestellten geschrieben. "Jeder Angestellte musste sich verpflichten, sich mindestens eine Stunde im Monat für das Gemeinwohl zu engagieren. Dadurch soll eine gewisse Bodenständigkeit behalten werden", erklärt Rettig.

"Ich könnte mir eine Road-Show von Kiel bis Freiburg vorstellen, bei der sich aktuelle und ehemalige Nationalspieler zeigen."
Andreas Rettig über mögliche Maßnahmen, um die Verbindung zwischen Fans und Nationalmannschaft herzustellen.

Die Euphorie, die zuletzt die Frauen-Nationalmannschaft erfahren hat, würde der DFB auch gerne wieder bei den Herren entfachen. Am liebsten spätestens zur Heim-EM im Sommer 2024. Neben sportlichem Erfolg warnt Rettig aber auch, dass sich Euphorie nicht mit Anpfiff des ersten Turnierspiels sofort da sei.

Vielmehr legt er gegenüber watson dem DFB eine "glaubwürdige Charm-Offensive" nahe und schlägt vor: "Ich könnte mir eine Road-Show von Kiel bis Freiburg vorstellen, bei der sich aktuelle und ehemalige Nationalspieler zeigen, ins Gespräch mit den Fans kommen und dadurch Werbung machen."

Alternativ wären Besuche der aktuellen Nationalspieler in deren Heimatvereinen oder -regionen vorstellbar, um eine Begeisterung hervorzurufen. Denn eins steht für Rettig, der die Ernennung von Rudi Völler zum DFB-Sportdirektor für absolut richtig halt, fest: "'Nur' ein Rudi Völler' wird nicht reichen, um die Euphorie zu entfachen."

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