Um kurz nach 20.30 Uhr am Sonntagabend war es amtlich. Die deutschen Frauen unterlagen den Engländerinnen im EM-Finale 1:2 nach Verlängerung. Das Team um Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg wartet weiter auf den ersten Titel seit dem Triumph bei der Europameisterschaft 2013.
"Kein Schwein hat mit uns gerechnet und nun spielen wir in Wembley im Finale gegen England vor 90.000 Fans. Das war unser Traum – den haben wir uns erfüllt", sagte Stürmerin Alexandra Popp noch nach dem Halbfinalsieg im ZDF.
Natürlich hatte das DFB-Team auch den Anspruch, den Titel am Sonntagabend gegen die Gastgeberinnen zu gewinnen – am Ende klappte das nicht. Die Auswirkungen auf den gesamten Frauenfußball sind aber auch ohne Titelgewinn bereits jetzt deutlich spürbar und könnten den in Deutschland dringend benötigten Aufschwung bringen.
Vor allem, der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz nach der Niederlage in der Kabine macht dem DFB Hoffnung. Voss-Tecklenburg bilanziert: "Olaf Scholz hat mir versprochen, dass wir uns treffen werden, für die Zukunft, um die Themen anzugehen und der feste Wille da ist, jetzt auch Nachhaltigkeit aus diesem Turnier mitzunehmen."
Auch Marcus Bölz, Professor für Sportjournalismus an der Fachhochschule des Mittelstands in Berlin und Leiter des Instituts für Sportkommunikation, zieht im Gespräch mit watson eine erste positive Bilanz: "Die Auftritte des weiblichen DFB-Teams waren Werbung für den deutschen Frauenfußball in turbulenten gesellschaftlichen Zeiten."
Auch Oliver Bierhoff kam bereits nach dem gewonnenen Halbfinale nicht mehr aus dem Schwärmen heraus. "Wir sind überglücklich, wie die Mannschaft hier in den letzten Wochen auftritt, welche Energie sie ausstrahlt, welche Geschlossenheit, welche Willenskraft", sagte der Direktor der Nationalmannschaften im ZDF.
Das DFB-Team nutzte die Sommerpause der Männer, die von unspektakulären Testspielen und zahlreichen Transfergerüchten geprägt ist, sowie die Glaubwürdigkeitskrise rund um die WM in Katar optimal für sich aus. Bereits vor dem Turnier sagte DFB-Torhüterin Ann-Katrin Berger im Interview mit watson: "So können wir in den Fokus rücken, den wir eigentlich auch verdient haben."
Und genau das ist durch die starken Turnierleistungen gelungen. "Ich werde in Deutschland von vielen Menschen angesprochen, die sagen, dass es richtig Spaß macht, zuzuschauen. Das ist eine große Bühne und die Spielerinnen haben das genutzt", erzählte Bierhoff am Mittwochabend im ZDF.
Diese Wahrnehmung ist auch anhand der Einschaltquoten deutlich messbar. Zum Finale am Sonntag schalteten im Schnitt 17,9 Millionen Zuschauende ein. Am Mittwochabend beim Halbfinale waren es über 12 Millionen Menschen, die die Partie gegen Frankreich im ZDF sahenund sorgten für einen Marktanteil von 47,2 Prozent. Somit sahen fast die Hälfte aller TV-Zuschauer den Finaleinzug des DFB-Teams. Bereits das Viertelfinale gegen Österreich hatten 9,5 Millionen Menschen geschaut.
Daher resümiert Experte Bölz: "Man kann wissenschaftlich einordnen, dass der deutsche Frauenfußball nun endgültig eine hohe Publikumsgunst generieren kann und so – genauso wie der Männerfußball – ein Magnet ist. Der Frauenfußball scheint somit in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen zu sein."
Damit diese Quoten jedoch dauerhaft möglich sind, gehe es nun viel mehr darum, den Frauen-Fußball auch nach der EM auf Dauer sichtbar zu machen. "Wenn die Nationalmannschaft dann wieder um 16 Uhr spielt, wo die meisten Leute arbeiten sind, wird man keine größere Masse für sich begeistern. Es geht darum, es weiter attraktiv zu halten und einfach zugänglich zu machen", sagt Ex-Nationalspielerin Turid Knaak im Gespräch mit watson.
Doch dass es bis dahin trotzdem noch ein weiter Weg ist, zeigt der Final-Sonntag sehr deutlich. Denn am Wochenende fand nicht nur das Endspiel statt, sondern auch die Spiele in der ersten Runde des DFB-Pokals.
Während also die deutsche Nationalmannschaft ab 18 Uhr vor knapp 90.000 Fans um den EM-Titel kämpfte, waren gleichzeitig potenzielle Fans bei ihrem Verein im Stadion oder vor dem Fernseher.
So schrieb bereits ein Twitter-User zynisch: "Wenn man jetzt einen Verband hätte, der wirklich eine Strategie hat die Aufmerksamkeit in den Alltag zu retten."
In diesem Zusammenhang spielen nicht nur die TV-Sender und Medien eine wichtige Rolle, sondern auch die millionenschweren Profi-Vereine und natürlich der DFB, um den neu entstandenen Hype auch nachhaltig für sich zu nutzen. Besonders, um noch mehr Schwung in die Equal-Pay-Debatte zu bekommen und die Rahmenbedingungen für die Spielerinnen grundlegend zu verbessern. So erklärt Marcus Bölz:
Vor dem Gruppenspiel gegen Spanien meldete sich sogar Bundeskanzler Olaf Scholz bei Twitter zu Wort und forderte eine gleiche Bezahlung für Spielerinnen und Spieler. Oliver Bierhoff lud Scholz daraufhin ein, um "mit ihm über Zahlen zu sprechen."
Diese Chance ergab sich nun sogar am Sonntag, denn der Bundeskanzler kündigte an, zum Spiel reisen zu wollen. "Das war eine großartige Leistung. Ich freue mich darauf, nach London zu fahren und das Team im Traumfinale gegen die Gastgeberinnen aus England im Wembley-Stadion zu unterstützen". Auch das verdeutlicht die gewachsene Bedeutung des Frauen-Fußballs in Deutschland.
"Den historischen Elfmeter sollte man jetzt eiskalt verwandeln und den deutschen Frauenfußball gerade auch finanziell weiterentwickeln", fordert daher Hochschulprofessor Bölz.