Serge Gnabry, Timo Werner, Bernd Leno und Joshua Kimmich. Alle diese deutschen Top-Fußballer haben etwas gemeinsam. Sie wurden beim VfB Stuttgart Mitte bis Ende der 2000er Jahre ausgebildet und legen nun eine Weltkarriere hin.
Seit diesen Ausnahmekönnern hat Stuttgart allerdings kaum mehr Spieler auf diesem Niveau hervorgebracht. Gerade deswegen haben die Schwaben 2019 Thomas Krücken als Leiter der Nachwuchsabteilung geholt. Davor hat er beim FSV Mainz 05 als Nachwuchstrainer und -chef gearbeitet und die Jugendarbeit in Mainz organisiert, sich insgesamt in Deutschland auch mit Engagements in Köln, Berlin und Hoffenheim profiliert.
Im dritten Teil der watson-Serie "Inside Deutscher Fußball – wie der DFB und die Bundesliga die Zukunft planen" erklärt Krücken, wie der VfB mit neuem Konzept nun die Stars von morgen fördern will. Gleichzeitig steht er stellvertretend für die Klubs der Bundesliga, die durch individuelle Herangehensweisen die Jugendarbeit des deutschen Fußball verbessern wollen.
Als Thomas Krücken 2019 in Stuttgart anfing, lagen die ganz großen Zeiten der guten VfB-Nachwuchsarbeit in der Vergangenheit. Deshalb brachte er neue Ideen auf den Weg und setzte sich für die individuelle Förderung der Spieler ein.
Die Jugendlichen sollten gemäß ihren Anforderungen, aber auch den Stärken und ihrer Position, speziell trainiert werden. Krücken nennt dieses Prinzip "Potenzialtraining". "Die Idee hinter dem Potenzialtraining ist, dass wir möglichst viel der uns zur Verfügung stehenden Trainingszeit mit dem Einzelnen an Themen arbeiten, die er benötigt, um sich zu entwickeln", erklärt er im Gespräch mit watson.
Konkret heißt das: Stürmer haben Trainingseinheiten, in denen sie ausschließlich Schüsse üben und somit auf 60 bis 80 zusätzliche Torversuche kommen. Beim VfB unterteile man da in zwei Stufen: Die Aktionsstufe, bei der es um die reine Wiederholung von Schüssen geht. Und die Situationsstufe. Dort muss der Spieler unter Zeitdruck den Abschluss machen.
Die Idee des Potenzialtrainings hat Krücken von Holger Geschwindner. Er war jahrelang der persönliche Trainer von Basketball-Legende Dirk Nowitzki. Krücken erklärt: "Er hat kritisiert, dass die Fußballer ihr Sportgerät nicht kontrollieren würden und erzählt, dass beim Basketball die Spieler neben dem normalen Training noch hunderte Würfe üben."
Aber nicht nur das Potenzialtraining hat Krücken eingeführt. Unter ihm fährt der VfB Stuttgart einen multisportiven Ansatz. Die Talente haben nicht nur Fußball-, sondern auch Basketball- und Judotraining. Die Idee hat der 44-Jährige wiederum von Prof. Dr. Arne Güllich von der TU-Kaiserslautern. "Professor Güllich hat seine Studien vorgestellt und uns Gründe präsentiert, die gegen eine zu frühen Spezialisierung sprechen."
Gegenüber watson erklärte Arne Güllich seine Erkenntnisse: "Weltklasse-Fußballer haben im Mittelwert acht Jahre lang auch andere Sportarten betrieben und davon über sechs Jahre an Wettkämpfen teilgenommen. Im Durchschnitt haben sie, bis sie 14 Jahre alt waren, ihre anderen Sportarten betrieben." Dazu käme, dass Weltklasse-Spieler insgesamt sogar weniger Fußballtraining absolvieren würden in der gesamten Karriere als Profis, die nur national anerkannt sind, aber keinen Weltruhm erlangen.
Die Forschung spricht sich daher explizit gegen eine zu frühe Spezialisierung und Fokussierung auf eine Sportart aus. Güllich erklärt: "Je mehr in jungen Jahren in einer Sportart trainiert wird, desto weniger Spielraum haben die Kinder in der Zukunft für spätere Anpassungen und Lernprozesse, weil sie einen größeren Teil ihres Potenzials schon aufgebraucht haben." Den multisportiven Ansatz in Stuttgart begrüßt Güllich deshalb: "Es scheint mir ein gutes Beispiel dafür, wie wissenschaftliche Erkenntnisse direkt in die Praxis umgesetzt werden."
Krücken geht sogar soweit und wünscht sportartenübergreifend mehr Zusammenarbeiten:
Das gehöre laut Krücken zur gesellschaftlichen Verantwortung. In Berlin haben die Profi-Vereine aus den verschiedenen Sportarten die Initiativen "Profivereine machen Schule" und "Profivereine machen Kita" ins Leben gerufen. In den jeweiligen Einrichtungen geben sie Training an die Kinder vor Ort.
Neben den bereits genannten Prinzipien sieht Krücken aber auch beim VfB Stuttgart und in der gesamten deutschen Nachwuchsarbeit noch Felder mit Nachholbedarf. "In der Athletik, dem neurozentrierten Ansatz und dem kognitiven Training können wir noch deutlich zulegen. Es geht besonders um das Entscheidungsverhalten und das periphere Sehen. Da liegen noch große Potenziale im Fußball verborgen, die wir beim VfB Stuttgart auf dem Schirm haben und langfristig fördern wollen."
Ein Problem, das im Fußball und besonders in der Jugend auftritt, ist das Dilemma zwischen der persönlichen Entwicklung eines Spielers und des Erfolgs der Mannschaft. Oft gehen diese beiden Kriterien nicht im Gleichschritt. Oder der Jugendtrainer steht so unter Ergebnisdruck, dass er auf die stärksten Spieler setzt, ohne dabei die in diesem Moment schwächeren zu stärken. Wenngleich es möglich ist, dass genau diese Spieler perspektivisch eine viel bessere Entwicklung nehmen könnten.
Um den Erfolgsdruck vom Trainer zu nehmen, bewerte Krücken nicht die Mannschaftsleistung seiner Nachwuchstrainer, sondern wie sehr sie die einzelnen Spieler weiterentwickeln. Dabei stoße er aber auch an Grenzen: "In der Athletik ist es deutlich leichter, anhand von objektivierten Daten einen Entwicklungsverlauf reproduzieren zu können. Beim Fußball sind wir dabei, datenabhängige Kriterien zu erarbeiten, um zu beurteilen, ob sich die Spieler verbessern. Aber die subjektive Empfindung wird unbedingt immer ein Teil der Spielerbewertung sein."
Auch als Folge der subjektiven Entscheidungen, ist die Bilanz von Nachwuchsleistungszentren oft sehr überschaubar. Arne Güllich erklärt: "Von allen NLZ-Spielern wird etwa jeder Tausendste ein Erstliga-Profi. Ein Nachwuchsleistungszentrum produziert also viel mehr Misserfolge als Erfolge."
Dabei sei es besonders für die Kinder schlimm, aussortiert zu werden. "Sie verlieren ihre Identität, ihr ganzes bisheriges Leben gibt es nicht mehr, und das Leben, das sie sich erträumt haben, zerplatzt. Sie fühlen sich alleingelassen, hilflos und als Versager. Es geht sogar so weit, dass 55 Prozent der Ausselektierten klinisch relevante Stressniveaus haben – bis hin zu Depressionen."
Damit den Spielern in Stuttgart dieses Leid erspart bleibt, setze Thomas Krücken auf Kommunikation, Transparenz und Ehrlichkeit. "Dadurch werden hoffentlich falsche Erwartungen und Ungeduld vermieden."
Um die Jugendspieler darüber hinaus gut vorbereitet zu haben, für den Fall, dass es mit dem Sprung ins Profi-Geschäft nicht klappt, legt Krücken großen Wert auf die schulische Ausbildung. "Wir wissen, dass die wenigsten Kinder und Jugendliche langfristig mit Fußball Geld verdienen, deshalb haben wir eine hohe Verantwortung, dass ein Spieler seine schulischen Ziele erreicht."
Ganz stolz ist er, dass im vergangenen Schuljahr alle Spieler, die einen Abschluss angestrebt haben und im entsprechenden Alter waren, diesen auch geschafft haben. Damit neben dem sportlichen Weg auch eine Alternative in der Arbeitswelt besteht.