2018 erfuhr der deutsche Fußball die größte Enttäuschung in der jüngeren Geschichte. Die Nationalmannschaft schied sang- und klanglos bei der Weltmeisterschaft in Russland aus: Als Tabellenletzter in einer Gruppe mit Mexiko, Südkorea und Schweden.
Spätestens da wurde der Ruf nach Reformen im Jugendfußball lauter. Einer, der diese Veränderungen vorantreiben soll, ist Joti Chatzialexiou. Der 45-Jährige ist seit 2018 Leiter der Nationalmannschaften, arbeitet insgesamt seit 2003 in verschiedenen Positionen beim DFB. Er hat vor allem die schwere Aufgabe, die Talentförderung im deutschen Fußball zu verantworten und hat gleichzeitig den Überblick zu behalten, welche Themen, Spieler und Inhalte in den jeweiligen Nationalmannschaften aktuell sind.
Im Gespräch mit watson betreibt Chatzialexiou aber auch selbstkritische Fehleranalyse und erklärt: "In der Vergangenheit haben wir uns zu sehr auf dem Erfolg ausgeruht. Mit dem 'Projekt Zukunft' verbinden viele auch das Scheitern bei der Weltmeisterschaft 2018. Wir haben aber schon davor angesetzt, weil wir da schon Tendenzen aus dem Jugendbereich wahrgenommen haben, die uns gewarnt haben."
Das "Projekt Zukunft" wurde im September 2019 vom DFB-Bundestag beschlossen. Seitdem arbeitet ein Projektteam zusammen mit dem DFB, der DFL und bis zu 250 Experten aus dem Amateur-, Profi- und Juniorenbereich zusammen. Das Ziel: Die Zukunft des deutschen Fußballs gestalten. Wichtig sei laut Chatzialexiou dabei, dass "im Austausch mit den Leistungszentren an der Talentförderung" gearbeitet werde.
Einen konkreten Ansatz nennt Chatzialexiou auch: "Wir versuchen bei den Jungs und Mädchen schon anzufangen und mit kleineren Spielformen wie im Zwei-gegen-Zwei oder Drei-gegen-Drei spielen zu lassen." Der Vorteil dadurch: Die Spieler und Spielerinnen sammeln mehr Ballkontakte, müssen öfter passen, dribbeln und schießen als bei einem herkömmlichen Sieben-gegen-Sieben oder Elf-gegen-Elf in der Jugend.
Im Gespräch mit watson räumt Chatzialexiou aber auch ein, dass Deutschland hier nicht Vorreiter sei: "Das haben uns die Schweizer und Belgier schon vor Jahren vorgemacht. Wir hinken ein bisschen hinterher, weil wir sehr traditionell sind und an Dingen festhalten." Dazu kommt, dass Chatzialexiou mit dem DFB auch positionsspezifische Programm entwirft. So startete vor einem Jahr ein Programm, das Trainingseinheiten explizit für Stürmer erarbeitet. Gleiches passiert auch für Mittelfeld- und Abwehrspieler.
Obwohl immer wieder nach Reformen im Nachwuchs gerufen wird, gewann die deutsche U21-Nationalmannschaft im vergangenen Sommer die Europameisterschaft. Ist das Problem im Nachwuchs also doch gar nicht so groß?
Chatzialexiou ordnet gegenüber watson ein: "Der Erfolg der U21 im Sommer 2021 war eine Mannschaftsleistung. Geprägt durch unsere typischen Tugenden wie Willen, Leidenschaft und Geschlossenheit." Dabei seien diese Tugenden im deutschen Fußball die Basis. Vielmehr gehe nun darum, "diese Tugenden auch mit der individuellen Qualität zu verbinden."
Und da ist dem Sportlichen Leiter der Nationalmannschaften zuletzt im November bei der Nominierung zur U21 eine Veränderung klar aufgefallen. Intensiv sei darüber diskutiert worden, welche Spieler in den Kader berufen wurden.
Was Chatzialexiou meint: Gegen Polen (0:4) und San Marino (4:0) waren insgesamt sechs Spieler im Kader, die im Jahr 2002 geboren wurden. Dazu kam mit Luca Netz sogar noch ein Akteur, der 2003 geboren wurde und sogar noch für die U19 spielen könnte. Laut Reglement dürfen in der EM-Qualifikation aktuell Spieler auflaufen, die nach dem 1. Januar 2000 auf die Welt gekommen sind.
Allerdings bei den U21-EM-Titeln 2009 und 2017 war das Verhältnis ähnlich. 2009 standen acht Spieler des jüngsten Jahrgangs im Kader, 2017 waren es sieben. Trotz allem fordert Chatzialexiou: "Wir brauchen eine größere Breite, wir wollen mehr dieser Ausnahmetalente."
Ein wichtiger Bausteine wäre dafür aber auch, dass die Talente Einsatzzeiten in der Bundesliga erhalten. Mit Niklas Dorsch (damals Gent), Vitaly Janelt (Brentford), Karim Adeyemi (Salzburg), Lukas Nmecha (damals Anderlecht) und Mergim Berisha (Salzburg) standen beim U21-Erfolg im Sommer fünf Spieler im Ausland in eher schwächeren Ligen unter Vertrag. 2009 spielten alle EM-Gewinner in Deutschland, 2017 spielte nur Odisseas Vlachodimos im Ausland.
Chatzialexiou führt dazu aus: "Es wäre unser Wunsch, dass wir in Zukunft die U21-Spieler in der Bundesliga halten können und sie dort Einsatzzeiten bekommen. Es ist ein ganz entscheidendes Alterssegment im Übergangsbereich von Jugend- zum Profi-Fußball. Da müssen die Jungs Spielpraxis sammeln." Dazu passt, dass beispielsweise in der Saison 2017/18 insgesamt 30 Prozent weniger junge deutsche Spieler in den Bundesliga-Kadern standen als noch 2006.
Den oftmals formulierten Vorwurf, dass den jungen Spielern heutzutage der Biss fehle, weist Chatzialexiou zurück. "Ich finde, wir haben coole Typen, die auch den Biss mitbringen. Die U21 ist genau mit dieser Leidenschaft Europameister geworden."
Trotz des Erfolges im Sommer hagelte es im November heftige Kritik. Nach der 0:4-Pleite der U21 gegen Polen, meldete sich Hermann Gerland zu Wort. Im November zitierte der "Kicker" Gerlands Kritik: "Wenn man in den Akademien mal kontrolliert, etwa die U 19 des FC Bayern hat 29 Spieler im Kader. Das heißt: Wechselt der Trainer nicht aus und alle sind gesund, schauen 18 zu. Das ist ein Unding!"
Daran anschließend forderte er neben mehr Spielpraxis für sämtliche Jugendliche, auch kleinere Spielformen und die Schulung von Zweikämpfen. Angesprochen auf die Kritik von Gerland antwortet Chatzialexiou mit einem Lächeln: "Hermann Gerland zu widersprechen geht gar nicht."
Gleichzeitig betonte Chatzialexiou, dass der DFB schon etwas länger die gleichen Probleme ausfindig gemacht habe und an Verbesserungen arbeite. Ein Umdenken müsse stattfinden: "Im Jugendfußball brauche ich keinen Erfolgstrainer, sondern einen Trainer, der die Spieler entwickelt."
Um daran anzusetzen, habe man in den letzten drei Jahren reflektiert und Maßnahmen dagegen entwickelt. "Trainer, die im Leistungszentrum arbeiten, können nun neue Angebote und Module in der Ausbildung wahrnehmen." Solche grundlegenden Veränderungen tragen allerdings nicht sofort ihre Früchte. Ab wann kann man daher positive Effekte der geänderten Trainer-Ausbildung und der neuen Spielformen bemerken?
Das hieße also ab 2027 hofft der DFB auf noch mehr gute Talente, die in den Vereinen und den Nationalmannschaften ihr Können beweisen. Einen ähnlichen Ablauf gab es bereits Anfang der 2000er Jahre.
Nachdem die Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2000 blamabel in der Gruppenphase ausgeschieden war, wurde die Regel umgesetzt, dass Bundesligavereine ein eigenes Nachwuchsleistungszentrum errichten mussten. Außerdem wurde 2003 die A-Junioren-Bundesliga und 2007 die B-Junioren-Bundesliga gegründet. Chatzialexiou folgert daraus: "Schlussendlich ist dabei der EM-Titel 2009 der U21 und die Weltmeisterschaft 2014 herausgesprungen."
Gleichzeitig will der 45-Jährige die aktuelle Situation nicht mit der vor 20 Jahren vergleichen. "Aktuell ist es Meckern auf hohem Niveau. Dennoch müssen wir weitere Schritte machen, um dauerhaft an die Weltspitze zurückzukehren." Vielleicht gelingt das dann ja sogar schon spätestens bei der Heim-EM 2024.