Den FC Bayern und Mainz 05 trennt für gewöhnlich so einiges. Aktuell unter anderem 15 Tabellenplätze in der Bundesliga. Und dennoch lassen sich die Aussagen der beiden Trainer derzeit problemlos übereinanderlegen.
Nach dem Unentschieden gegen Leipzig sprach Bayern-Trainer Thomas Tuchel davon, dass seine Mannschaft Reaktion, Stolz und Charakter gezeigt habe. Die Niederlage hätte man nicht akzeptieren wollen. Worte, die auch vom Mainzer Übungsleiter Bo Svensson hätten kommen können.
Und es gibt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Mannschaften: Beide haben schon früh in der Saison Änderungen an ihrem Kader vorgenommen.
Mainz 05 hat Joshua Guilavogui bereits aus dem zwischenzeitlichen Ruhestand zurückbeordert, der FC Bayern wird Jérôme Boateng aller Voraussicht nach in den kommenden Tagen unter Vertrag nehmen. Ein klares Zeichen dafür, dass die Saison bislang noch nicht so läuft wie geplant. Boateng soll in München nun seinen Beitrag dazu leisten, das zu ändern. Seine geplante Reaktivierung spricht Bände über die vergangenen Monate bei den Bayern.
Ein Stürmer sollte her im Sommer, koste es, was es wolle. Das hat die selbsternannte "Transfer-Taskforce" um UIi Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge erreicht: Harry Kane kam für 100 Millionen von den Tottenham Hotspur, von einem Statement-Transfer war die Rede.
Gleichzeitig sind aber andere Mannschaftsteile dadurch offensichtlich hintenübergefallen. Nämlich alles von der Sechser-Position an abwärts.
Nach und nach gab der FC Bayern im zurückliegenden Transferfenster sämtliche Verteidiger ab: Benjamin Pavard, Lucas Hernández, Daley Blind und Josip Stanišić. Nachbesetzt wurden diese Vakanzen nicht, hinzu kamen im zentralen Mittelfeld die Abgänge von Ryan Gravenberch und Marcel Sabitzer. Fulhams João Palhinha war als Ersatz bereits in München gelandet, ein Transfer scheiterte letztlich doch noch, weil sein Verein keinen Nachfolger finden konnte.
"Der Kader ist ein bisschen dünn", resümierte Thomas Tuchel nach dem Ende der Transferperiode. Die Mannschaft sei insgesamt zwar gut, "aber auf manchen Positionen ein bisschen mutig". An anderer Stelle sagte er: "Hoffentlich kommen wir mit ein bisschen Glück durch den Winter." Der Transfer von Boateng ist ein Eingeständnis, dass das offensichtlich nicht funktioniert hat.
Nur drei Innenverteidiger schmückten den Kader des FC Bayern zuvor. Min-jae Kim und Dayot Upamecano sind unter Tuchel gesetzt und haben Mathijs de Ligt auf die Reservebank verdrängt.
"Die letzten vier Spiele habe ich nicht so viel gespielt, das ist furchtbar und natürlich nicht so schön", sagte de Ligt nach dem Spiel gegen Leverkusen über seine neue Rolle und antwortete auf Nachfrage salopp, dass ihm Tuchel dafür keine Begründung gegeben habe. Trotz Unterbesetzung deutet sich also bereits Unzufriedenheit an. Da zuletzt aber alle drei verletzungsbedingt ausfielen, und Kim im Januar an den Asienmeisterschaften teilnehmen wird, sahen die Bayern auf der Position Nachholbedarf.
Im DFB-Pokal-Spiel gegen Münster mussten die positionsfremden Leon Goretzka und Noussair Mazraoui in der zentralen Defensive aushelfen.
"Ich hatte es davor noch nie gemacht", sagte Goretzka nach dem Spiel. "Nous hat gesagt, er hat in seinem Leben genau einmal Innenverteidiger gespielt, also konnten wir von seiner Erfahrung profitieren." Nach der Partie wurde der deutsche Nationalspieler zum "Man of the Match" gekürt. Tuchel sprach davon, er sei mit seinen Anlagen "eigentlich dafür prädestiniert", Innenverteidiger zu spielen.
Somit sind die Bayern in der Abwehrzentrale spärlich besetzt, weisen aber immerhin Alternativen auf. In sportlicher Hinsicht wirken derzeit vielmehr das zentrale Mittelfeld und die rechte Abwehrposition fragwürdig.
Wenn Leon Goretzka und Joshua Kimmich im Mittelfeld begannen, stand in der Regel zuletzt Konrad Laimer rechts hinten auf dem Feld. In der Konstellation befindet sich niemand auf der Bank, der in der Mittelfeldzentrale den defensiven Part übernehmen könnte. Als Rechtsverteidiger steht etatmäßig nur Mazraoui im Kader, weil Bouna Sarr in München geradezu als Paria behandelt wird.
Statt also auf dringender wirkenden Positionen nachzubessern, wird man nun voraussichtlich mit Jérôme Boateng einen Innenverteidiger unter Vertrag nehmen.
Boateng hat zehn Jahre bei den Bayern gespielt und galt seinerzeit als einer der besten Spieler auf seiner Position. Mittlerweile ist er aber 35 Jahre alt und hat bei Olympique Lyon in der vergangenen Saison acht Pflichtspiele gemacht. Aus sportlichen Gründen wurde sein Vertrag dort nicht verlängert. Für die Champions League wäre er zudem erst ab dem Achtelfinale spielberechtigt.
Bei den Bayern würde Boateng gewiss keine Ansprüche auf Spielminuten stellen, was allerdings auch schon viel über sein Leistungsniveau verrät. Für die Belastungssteuerung könnte er zumindest als Wechselspieler dienen.
In Anbetracht seiner "privaten Geschichte", wie Bayerns Sportdirektor Christoph Freund Boatengs mutmaßlich justitiables Vergehen bezeichnete, stellt sich aber die Frage, welchen Preis man dafür zahlen möchte, ihn in der 73. Minute gegen Darmstadt einzuwechseln. Denn mehr noch als der FC Bayern ist Boateng derzeit auf seine Verteidiger angewiesen.
Jérôme Boateng steht wegen vermuteter Körperverletzung gegen seine Ex-Freundin vor Gericht. Im vergangenen Herbst bezeichnete der zuständige Richter in seiner Urteilsbegründung den Sachverhalt als "mehr als nachgewiesen". Dagegen haben Boateng und seine Verteidiger Revision eingelegt.
Auch die Staatsanwaltschaft und die Nebenklage hatten Revision gegen eingelegt, weil sie eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und eine entsprechend härtere Strafe gefordert hatten. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat die Verurteilung wegen Körperverletzung und Beleidigung aufgehoben, womit der Prozess voraussichtlich im Frühjahr in die vierte Runde gehen wird.
Dennoch: Auch für Boateng gilt – konträr zur öffentlichen Meinung – die Unschuldsvermutung. Und so beweist der Fußball in der Causa Boateng einmal mehr seine Funktion als Brennglas gesellschaftspolitischer Debatten: Ist es moralisch vertretbar, einen Spieler mit einer solchen Vorgeschichte zu beschäftigen? Anders gefragt: Wie geht man als Gesellschaft mit Menschen um, die sich vor Gericht verantworten müssen?
Die bayerischen Verantwortlichen haben für ihren Teil eine Antwort auf die Frage gefunden. "Gerade, weil das Verfahren ausgesetzt ist", meinte Thomas Tuchel, gelte "die Unschuldsvermutung". Eine Rückkehr zu den Bayern müsse schon "drin sein".
Christoph Freund äußerte sich ähnlich. Wenn der Prozess neu aufgerollt wird, müsse man die "Situation sicher neu bewerten". Er betonte: "Das Kriterium war: Wir hatten Bedarf."
Nur werden Fußballvereine, global agierende wie der FC Bayern noch dazu, in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nur am sportlichen Erfolg gemessen, sondern an ihrer Außendarstellung. Der FC Bayern ist eine Marke.
So wurde die langjährige Kooperation mit der katarischen Fluggesellschaft Qatar Airways immer wieder kritisiert – im Juni dieses Jahres erklärte der Verein, den Vertrag nicht zu verlängern. Die Verpflichtung von Boateng wurde bereits jetzt vielfach angegriffen.
Der sportliche Mehrwert von Jérôme Boateng dürfte sich entsprechend in Grenzen halten, gleichzeitig würde der FC Bayern zumindest billigend in Kauf nehmen, für Unruhe im Verein zu sorgen. Unabhängig davon, welches Urteil im Frühjahr gesprochen wird, steht bereits jetzt fest: Die turbulente vergangene Saison der Bayern metastasiert in die aktuelle hinein.