Mit einer Seelenruhe legte sich Toni Kroos den Ball an der schwedischen Strafraumkante zurecht. Es war die 95. Spielminute, voraussichtlich die letzte Aktion des Spiels. Der Spielstand: 1:1 – Deutschland wäre ausgeschieden.
Toni Kroos legte den Ball also kurz auf Marco Reus ab, und schoss ihn elegant in den rechten oberen Winkel. "Das war kein Freistoß, das war ein Messerstich", schrieb die "L'Équipe" später. "Ins Herz der Schweden und in die Seele der Deutschen." Kroos rannte in die deutsche Kurve und streckt seine Arme aus. Als wollte er sagen: "Seht ihr denn eigentlich nicht, was ich kann?"
Nie war Toni Kroos in Deutschland wohl beliebter als am 23. Juni 2018, nachdem er die Hoffnung auf ein Weiterkommen in der WM-Gruppenphase zumindest kurzfristig am Leben gehalten hatte.
2021, nach dem Aus im EM-Achtelfinale gegen England, beendete er seine Karriere in der Nationalmannschaft nach 106 Länderspielen. Die Reaktionen in der deutschen Öffentlichkeit fielen verhalten aus. Ein roter Faden in seiner so sensationell erfolgreichen Karriere. Nun könnte sich ein Comeback anbahnen.
Zuletzt hatte Bundestrainer Julian Nagelsmann im ZDF-Sportstudio eine Kroos-Rückkehr als "interessanten Gedanken" bezeichnet. Er müsse sich qua Jobbezeichnung "über alle Spieler, die einen deutschen Pass haben, Gedanken machen."
Zuvor hatte auch Mannschaftskollege Antonio Rüdiger eine mögliche Rückkehr von Kroos adressiert. Ein Spieler, der sich immer noch auf einem so hohen Level befinde, müsse eigentlich dabei sein, befand Rüdiger und sagte: "Ich frage ihn jeden Tag." Darauf angesprochen reagierte Kroos etwas perplex: "Ich musste lange überlegen, er hat mich auf dem falschen Fuß erwischt, weil ich selbst diesen Gedanken nicht hatte, der kam erst durch ihn", sagte Kroos.
"Dadurch habe ich überlegt und ihm eine Antwort darauf gegeben, die ich heute nicht geben kann." Nun berichtete die "Bild"-Zeitung, dass sich Toni Kroos ein Comeback für das DFB-Team offenbar tatsächlich vorstellen könne. Was aber würde das für die deutsche Nationalmannschaft bedeuten?
Fest steht: Sportlich ist Toni Kroos über alle Zweifel erhaben. Genau genommen ist er der erfolgreichste deutsche Fußballspieler der Geschichte: Kroos wurde 2014 Weltmeister und 2018 deutscher Fußballer des Jahres. Er gewann fünfmal die Champions League, dreimal die deutsche und dreimal die spanische Meisterschaft. Der Europameistertitel fehlt allerdings noch in der prall gefühlten Vitrine des mittlerweile 33-Jährigen.
Die Frage ist allerdings, ob Kroos mit seiner Spielanlage der deutschen Nationalmannschaft in der aktuellen Verfassung weiterhelfen könnte. Julian Nagelsmann sinnierte zuletzt darüber, ob es nicht eher Spieler vom Typus "Worker" brauche. Zu denen zählt Kroos sicherlich nicht.
Kroos ist Taktgeber und Metronom, Künstler und Dirigent. Jemand, der das Tempo eines Spiels bestimmt, mit spielerischer Eleganz und Passstatistiken, die an Perfektion grenzen. Ein Charakter also, der – in Qualitätsabstufungen – in der Nationalmannschaft bereits überrepräsentiert ist.
DFB-Kapitän İlkay Gündoğan gilt als so jemand, bei Joshua Kimmich mag niemand so recht beurteilen, welche Rolle er einnehmen soll, möchte und überhaupt kann. Auch Leon Goretzka vermochte es nicht immer, die defensivere Rolle im Mittelfeld anzunehmen. Einzig Pascal Groß scheint derzeit am ehesten von der Spielanlage her die Sechser-Position bekleiden zu können.
Taktik-Experte Tobias Escher schreibt auf X, vormals Twitter, dass er Kroos' Rückkehr ins DFB-Team kritisch sehe. "2018 und 2021 hat er im Nationaldress taktisch so agiert wie bei Real, was einfach nicht funktioniert hat. Mit Gündoğan hat es auf dem Feld nie gefunkt, und das Problem der defensiven Absicherung des Sechserraums würde er nicht lösen."
Ähnlich sieht es Rekordnationalspieler Lothar Matthäus in seiner Sky-Kolumne: "Wenn Kroos Außenverteidiger spielen könnte – okay. Aber im Mittelfeld hat die deutsche Mannschaft den geringsten Bedarf. So macht man ein Fass auf, das man gar nicht braucht."
Bei der "ran Bundesliga Webshow" betonte Markus Babbel, dass es im Falle einer tatsächlichen Rückkehr vor allem auf die Akteure ankäme, die neben Kroos zu agieren hätten. "Wenn du keinen Partner für ihn findest, bekommst du die Defensivprobleme nicht in den Griff", meinte Babbel. "Wenn du aber die richtige Mischung findest, kann Toni groß agieren." Nur scheint Nagelsmann aktuell bei dem bestehenden Personal schon nicht die richtige Mischung zu finden.
"Ich glaube, jeder deutsche Fußballer sieht einen gewissen Reiz darin, eine Heim-EM zu spielen", sagte Julian Nagelsmann. Hoffnungsvoll, Toni Kroos so womöglich überzeugen zu können. Nur lässt sich bezweifeln, ob Kroos der deutschen Nationalmannschaft oder überhaupt sich selbst damit einen Gefallen tun würde.
Im Gespräch mit der "Zeit" hat İlkay Gündoğan, der Zeit seiner Karriere wie Toni Kroos gleichermaßen in der deutschen Anerkennung vernachlässigt wurde, erklärt, woran das in seinem Fall liegen könnte. "Wenn jemand seinen Gegenspieler tunnelt oder einen besonderen Trick macht, läuft das auf Social Media wie wild", sagte Gündoğan. Auf das gesamte Zusammenspiel würden hingegen nur wenige achten.
"Ich bin kein Spieler für Highlights. Ich glänze selten selbst, die Tore machen in der Regel andere." Aussagen, die sich so exakt auf Kroos übertragen ließen. Dass Kroos bei seiner Rückkehr in die Nationalmannschaft die EM gewinnt, ist gemessen am aktuellen Leistungsvermögen des DFB-Teams unwahrscheinlich. Alles andere dürfte seinen diskreditierenden Status als "Querpass-Toni" lediglich untermauern.
In der Debatte um eine mögliche Kroos-Rückkehr steckt auch die fast schon naive Hoffnung auf eine Rückkehr der alten Nationalmannschaft. Der, die 2014 mit eben jenem Kroos in Brasilien Weltmeister wurde. Mit seiner Erfahrung könne er schließlich einer derart verunsicherten Mannschaft Halt geben.
"Wenn Toni spielt, dann mit dem Puls auf 20 und einem Passspiel von einem anderen Stern", sagte Antonio Rüdiger über seinen Mitspieler. Die Frage ist nur, ob der deutschen Nationalmannschft nicht eher ein höhertouriger Herzschlag gut tun würde.