Der Blick schweifte gedankenverloren durch die Münchner Arena und blickte in die ungläubigen Gesichter der eigenen Fans. Viel zu reden gab es in diesem warmen Abend am 19. Mai 2012 nicht. Hier ein paar aufmunternde Worte, dort einen Klaps für die Spieler, die ihre Tränen hinter den eigenen Händen verborgen oder deswegen das Trikot vor das Gesicht zogen.
Er war der Tag, an dem der FC Bayern das letzte Mal eine Saison ohne Titel erlebte. Dieser Tag vor elf Jahren bedeutete den größten Einschnitt in der jüngeren Geschichte des Vereins. Vize-Meister mit acht Punkten Rückstand auf Borussia Dortmund, eine heftige 2:5-Klatsche im Pokalfinale gegen den BVB und als Höhepunkt die traumatische Niederlage im Elfmeterschießen im Champions-League-Finale gegen den FC Chelsea im eigenen Stadion.
Und mittendrin war Christian Nerlinger. Es war der erste Versuch der damaligen Bayern-Bosse, verdiente Ex-Spieler ins Management des Klubs zu holen und ihnen die Zukunft anzuvertrauen. Nerlinger als damaliger Sportdirektor scheiterte an diesem Vorhaben.
Nun steht der FC Bayern in dieser Saison erstmals seit elf Jahren wieder vor einer titellosen Saison. Lediglich der Bundesliga-Titel ist noch möglich. Gibt es nun die gleichen Konsequenzen wie vor elf Jahren?
Die Vorzeichen sind natürlich etwas andere, zumal die Münchner sich nach dem Patzer des BVB am Freitagabend mit einem Sieg über Hertha BSC die Tabellenführung zurückholen können.
Doch die Parallelen zwischen Nerlinger und Hasan Salihamidžić sind erstaunlich. Der Unterschied: "Brazzo" ist nicht mehr nur Sportdirektor, sondern mittlerweile zum Sportvorstand beim FC Bayern aufgestiegen.
Zuvor war er zwischen den Vereinsgranden Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge auch "nur" Sportdirektor – wie Christian Nerlinger.
"Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge sind zwei absolut charismatische Menschen, die dich mitnehmen, mitreißen können, von denen ich viel lernen konnte. Zwischen zwei solchen Alphatieren, bei denen es aber in der Vergangenheit auch nicht immer harmonisch ablief, war es allerdings oft schwer", sagte Nerlinger über die Arbeit zu seiner Zeit vor einem Jahr dem "kicker".
Eine ähnliche Erfahrung musste auch Salihamidžić fünf Jahre später machen. "Ich habe mich dann als Neuling in dieser Position versucht zu positionieren, was nicht so einfach war. Dabei stand ich zwischen zwei erfolgreichen und nach wie vor einflussreichen Ikonen des Vereins", wie "Brazzo" in einem Interview mit dem "Zeit"-Magazin später zugab.
Nerlinger rieb sich in Machtkämpfen mit den damaligen Bossen Hoeneß, Rummenigge, Finanzchef Karl Hopfner und Ehrenpräsident Franz Beckenbauer nicht weiter auf. Er sagte vor einem Jahr über die Tage nach dem verlorenen Finale 2012: "Aber dann kam eine Phase, in der ich jegliche Freude und jeglichen Spaß verloren hatte. Die Analyse nach dem verlorenen Finale gegen Chelsea war sehr emotional."
Emotional dürfte es auch am 22. Mai zugehen, wenn der Aufsichtsrat über die Zukunft von Vorstandschef Oliver Kahn und Sportvorstand Hasan Salihamidžić entscheidet.
Die beiden Ex-Bayern-Stars waren der zweite Versuch von Hoeneß und Rummenigge, ihr Erbe von verdienten Ex-Spielern weiterführen zu lassen. Salihamidžić kam 2017 als Sportdirektor, wurde 2020 zum Sportvorstand befördert und gilt als Hoeneß-Liebling. Kahn wurde von Rummenigge eingearbeitet und übernahm ab Sommer 2021.
Anders als Rummenigge konnte Hoeneß als Ehrenpräsident und Aufsichtsrat-Mitglied bis heute nie von seinem Klub loslassen. Nicht umsonst dankte Neu-Trainer Thomas Tuchel bei seiner Präsentation nicht nur Kahn und Salihamidžić für das Vertrauen, sondern explizit auch dem 71-Jährigen.
Die Hauptschuld an der aktuellen Krise tragen in der öffentlichen Diskussion aber Kahn und Salihamidžić – und irgendwie auch der längst entlassene Ex-Coach Julian Nagelsmann.
So gibt es bereits wieder Gerüchte um eine zeitweilige Rückkehr von Kahn und Rummenigge.
Die Konsequenz nach der letzten Katastrophen-Saison vor elf Jahren in der Führungsebene war Nerlingers Abgang. Der Ex-Sportchef betonte auch vor einem Jahr, dass der Abschied die richtige Entscheidung gewesen sei.
Ihm folgte Matthias Sammer, der direkt Sportvorstand wurde. Mit ihm wurde ein großer Umbruch im Bayern-Kader eingeleitet. Sechs Spieler verließen den Klub, acht kamen hinzu, die Münchner gaben über 70 Millionen für neue Profis aus. Auch wenn nicht alle Transfers zündeten, holte man mit dem damaligen Bundesliga-Rekordeinkauf Javi Martínez den Schlüsselspieler zum Champions-League-Sieg 2013.
Viel wichtiger aber: Die Münchner hatten mit ihm einen Sportchef, der nah an der Mannschaft dran war und es schaffte, die letzten Prozentpunkte aus den Top-Stars herauszukitzeln. In seinen öffentlichen Auftritten wirkte er oft schroff und unnahbar, doch intern war er goldwert. Denn Sammer legte auch öffentlich den Finger in die Wunde, wenn es nicht lief oder ihm die Leistung des Teams trotz eines 2:0-Sieges nicht passte.
Auch während der Champions-League-Übertragungen in diesem Jahr rechnete er als Experte bei Amazon Prime schonungslos mit dem deutschen Fußball ab und benannte klar die Baustellen.
Nun geisterte sein Name wieder durch die Medien-Welt, als es um die Person ging, die den Klub wieder in die richtige Bahn lenken kann. Ob es jedoch wirklich zu einem Comeback kommt, ist mehr als fraglich.
Sammer war ebenfalls Kandidat als Nachfolger von Oliver Bierhoff beim DFB, sagte aber damals: "Ich bin glücklich in meinem Leben. Aber ich wäre glücklicher, wenn der Fußball in ein bisschen bessere Bahnen gelenkt wird. Helfen für den Fußball, für die Sache, das ist mein Leben. Aber gewisse Positionen brauche ich nicht mehr."
Und so werden die Bayern im Sommer wieder viel Geld für neue Spieler ausgeben – wahrscheinlich für über 100 Millionen Euro einen neuen Stürmer verpflichten – und einige Stars vom Hof jagen.
Da ein "Weiter so" bei den Münchnern ausgeschlossen ist, sind auch personelle Konsequenzen in der Führungsetage um Kahn und Salihamidžić denkbar.
Fraglich nur, welcher Ex-Spieler sich als Nächstes das Projekt antun möchten. Wobei: Philipp Lahm schon damals Interesse am Posten bekundet hatte, sich direkt nach dem Karriereende 2017 jedoch nicht mit den Bayern-Bossen einig wurde.
Als Geschäftsführer und Turnierdirektor des EM im eigenen Land ist er noch bis zum kommenden Sommer vertraglich an den Verband gebunden - genau dann läuft der Vertrag von Oliver Kahn in München aus.