Felix Brych wurde 2017 und 2021 zum Weltschiedsrichter des Jahres ausgezeichnet. Bild: dpa / Soeren Stache
Interview
Felix Brych ist einer der besten deutschen Schiedsrichter aller Zeiten. Im watson-Interview spricht er offen über die Handspiel-Regel, den VAR und warum es jetzt Zeit ist, "alle Gefühle rauszulassen".
watson: Herr Brych, können Sie mir in drei Sätzen einfach und verständlich die Handspiel-Regel erklären?
Felix Brych: (lacht) Das ist nicht ganz so einfach. Wir spielen Fußball und jeder Mensch hat Hände – die gehören zum Körper dazu. Als Schiedsrichter gilt es, den Spagat zu finden, ab wann die Hände unsportlich ins Spiel eingreifen und wann es vertretbar ist. Diese Grenze zu finden, ist auch für uns nicht immer einfach.
Sie sind seit 22 Saisons Schiedsrichter in der Fußball-Bundesliga. War das früher einfacher?
Ich glaube schon, weil das Spiel nicht so schnell war und die Spieler konnten die Hände eher wieder zurückziehen. Das Thema strafbares Handspiel gab es im Fußball aber schon immer. Aktuell ist es einfach schwieriger, weil die Hysterie um jedes Handspiel viel größer ist als früher. Ich würde mir wünschen, dass sich die Öffentlichkeit rund um das Thema Handspiel wieder etwas entspannt und wir in dem Bereich wieder mehr Ermessensspielraum bekommen – wohl wissend, dass wir es nie allen recht machen können.
Felix Brych entscheidet nach Handspiel auf Elfmeter. Zum Entsetzen von Bochums Kapitan Losilla. Bild: imago images / Krieger
Die Hysterie ist auch deshalb so groß, weil viele Handspiele erst durch den Eingriff des Videoassistenten (VAR) in der Super-Zeitlupe zu erkennen sind.
Das macht es nicht immer einfacher, denn das Handspiel wird durch die vielen Kameraeinstellungen seziert. Entscheidend für uns ist immer, die Grenze zwischen einem natürlichen und einem unsportlichen Handspiel zu ziehen.
Und wie ziehen Sie diese?
Da ist der Live-Eindruck ganz wichtig. Das kommt teilweise in den Zeitlupen nicht so gut rüber, aber dort lassen sich objektive Parameter ganz gut erkennen: Wie weit ist die Hand vom Körper weg? Wo war der Ball? Wie weit ist die Distanz zwischen dem Schützen und dem Hand-Spielenden. Dann gilt es, diese Fragen mit dem Live-Eindruck zusammenzulegen. Das ist nicht immer einfach.
Können Sie verstehen, dass es selbst für Beobachter und Fans manchmal schwer wird, das zu verstehen?
Ich kann versehen, dass es bei diesem Thema Unmut gibt. Ich muss auch ehrlicherweise sagen, manchmal würde ich ganz gerne selbst die Entscheidung gar nicht treffen, weil sie so kompliziert und schwierig ist. Aber das ist meine Aufgabe als Schiedsrichter und dafür trete ich jede Woche wieder an.
Am 27. April erscheint "Aus kurzer Distanz – Meine Erfolgsprinzipien als Weltschiedsrichter": das Buch von Felix Brych. bild: ullstein verlag
In Ihrem Buch sprechen Sie davon, dass der VAR einen Schiedsrichter in seinen schlechten Phasen bei der Entscheidungsfindung passiver macht. Ist der VAR ein Nachteil?
Ein Nachteil ist das auf keinen Fall. Ich würde ohne VAR gar nicht mehr pfeifen wollen, weil ich diesen doppelten Boden will und brauche. Entscheidend ist aber, dass ich meine Autorität immer wieder auf den Platz bringe, selbstständig entscheide und den VAR nur als meinen Rettungsfallschirm betrachte. Wenn ich mit dieser Einstellung in das Spiel gehe und pfeife, ist er ein gutes Tool, um große Fehlentscheidungen zu korrigieren.
In den vergangenen Jahren erleben wir immer häufiger, dass Schiedsrichter nach dem Spiel ihre Entscheidungen in den Medien begründen und erklären. Ist das eine gute Entwicklung?
Ich finde es grundsätzlich gut, dass wir uns äußern dürfen und davon auch Gebrauch machen. In anderen Verbänden ist das nicht der Fall. Allerdings darf es nicht zu viel werden. Wir sind nicht in der Pflicht, uns zu äußern, gerade wenn wir vertretbar oder richtig entschieden haben. Ich habe das Gefühl, dass mittlerweile zu viel nachgefragt wird und wir Schiedsrichter zu oft vor der Kamera stehen. Das ist aber nicht die Kern-Aufgabe eines Schiedsrichters.
Welche Nachfragen sind Ihnen lieber?
Das bessere Spiel habe ich gepfiffen, wenn danach keiner etwas von mir will. Das ist für mich einfach der größte Erfolg. Mein Ziel ist es, alle Fragen auf dem Platz zu klären. Dann muss ich im Nachgang nicht noch vor die Kameras treten und etwas erklären.
In Ihrem Buch kritisieren Sie gleichzeitig, dass "die Hemmschwelle zu Boulevardisierung und Skandalisierung immer weiter gesunken" ist. Haben Schiedsrichter also einfach eine schlechte PR-Abteilung?
Nein. Da können wir ja nichts dafür. Wir haben einfach einen undankbaren Job. Jede Mannschaft möchte das Spiel gewinnen und dann gibt es immer die Entscheidungen im Graubereich, für die man eine Lösung finden muss. Deswegen ist es nicht schlecht, dass wir uns als Schiedsrichter öffnen. Und mit dem Buch versuche ich auch, die Komplexität des Jobs zu beschreiben, und was vor, während und nach dem Spiel auf einen einprasselt.
Felix Brych muss sich den Unmut von Freiburgs Trainer Christian Streich anhören. Bild: imago images IMAGO / Jan Huebner
Sie beschreiben auch den mentalen Stress, der dadurch entsteht und Ihnen 2018 den Spaß am Schiedsrichtersein raubte. Ein Jahr, nachdem Sie zum Weltschiedsrichter des Jahres gewählt wurden.
Das war in der Zeit nicht so einfach und es hat mir auch nicht so viel Spaß gemacht. Da musste ich wirklich kämpfen. Das Wichtigste war, dass ich über einen langen Zeitraum möglichst fehlerlos gepfiffen habe. Aber natürlich musste ich auch mit mir selbst arbeiten und zurechtkommen.
Wie sah das aus?
Am Körperlichen konnte ich mit meinen Ärzten und Physios arbeiten, aber gerade das Mentale ist für jeden Sportler eine sehr wichtige Komponente. Ich habe in dieser Zeit viel mit meinem Sportpsychologen gearbeitet, der mich seit 2013 betreut. Es ging in dieser Phase darum, meine Sorgen, Nöte und Ängste zu vertreiben. Das mir geholfen, Zusammenhänge zu erkennen und zusammenzuflicken. Zudem hat mir geholfen, dass ich in meiner Heimat München sozial stets gut eingebettet war und bin.
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Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?
Es war keine schöne Zeit, aber diese Täler machen einen Sportler stärker und haben auch mich stärker gemacht. Ich glaube, dass ich ohne dieses Tal nicht den tollen Abschluss meiner internationalen Karriere samt erneuter Wahl zum Weltschiedsrichter 2021 erreicht hätte.
Sie sagen auch, dass Sie immer hinter einer Fassade nach dem Motto: "Scheißegal, bloß keine Gefühle offenbaren" in der Öffentlichkeit auftreten und Eigenvermarktung Ihnen fern liegt. Wieso dann gerade jetzt das Buch?
Um endlich mal all diese Gefühle rauszulassen. Letztlich soll das Buch auch die Einsamkeit eines Schiedsrichters veranschaulichen und das Leben, alles mit sich selbst ausmachen zu müssen. Man muss eben immer möglichst mit der Fassade herumlaufen, damit man sich nicht angreifbar macht. Auf der anderen Seite möchte ich aber die Faszination dieses Jobs beschreiben. Nach der EM 2021 wurde ich gefragt und habe mich zunächst ein halbes Jahr lang geziert. Letztlich ist es aber ein großes Geschenk, da ich die Zeit für mich zusammen mit Sven Haist auch noch einmal aufarbeiten konnte.
"Ich heiße Felix und bin zunächst einmal Mensch und dann bin ich Schiedsrichter."
Sie pfeifen auch in der Saison 2023/24 in der Bundesliga. Haben Sie Angst, ein paar Geheimnisse zu viel verraten zu haben?
Es kann gut sein, dass sich die Teams noch besser auf mich einstellen können, aber das nehme ich gerne in Kauf. Ich habe in der Bundesliga so ein Standing, dass man mich nicht mehr permanent testet. Die Spieler und Trainer kennen mich über die Jahre.
Nicht nur Spieler und Trainer kennen Sie, auch in der Öffentlichkeit werden Sie erkannt und haben keine Privatsphäre. Haben Sie sich mit dem Umstand schon abgefunden?
Ich muss ehrlich sagen, dass ich das so nicht erwartet hatte. Es war für mich schwierig zu erkennen, dass ich diese Schiedsrichter-Uniform nie ablegen kann. Seit ich nicht mehr international pfeife, kann ich mich aber auch ein bisschen öffnen oder in der Öffentlichkeit ein Bier trinken. Das habe ich davor immer vermieden. Manchmal reagiere ich aber auch genervt, wenn mich Menschen erkennen und sagen: "Schau, da ist der Schiedsrichter."
Wie reagieren Sie dann?
Dann sage ich, ich heiße Felix und bin zunächst einmal Mensch und dann bin ich Schiedsrichter. Es gibt nicht nur die schönen Seiten des Jobs und das ist eben eine Kehrseite der Medaille.
Nach der kommenden Spielzeit dürfte ein Karriereende denkbar sein. Freuen Sie sich schon auf Freitagabende, Samstage und Sonntage, an denen Sie einfach die Füße hochlegen können?
Da ist die Vorfreude groß, dann auch die Maske abzulegen, die ich jetzt immer noch tragen muss, um der Bedeutung meines Jobs gerecht zu werden. Aber ich bin ein Botschafter des Fußballs und muss akzeptieren, dass ich entsprechend leben muss. Die Dauer der Karriere hängt von der Leistung und der Fitness ab, aber auch immer vom Umgang mit den Begleiterscheinungen, die man irgendwann nicht mehr ertragen will.