Der deutsche Nationaltrainer läuft wild durch seine Coachingzone und versucht die Spieler mit Gesten und Anweisungen zu erreichen. Die Auswechselspieler stehen ebenso aufgebracht am Spielfeldrand und zeigen auf ihre imaginäre Uhr am Handgelenk und machen den Schiedsrichter auf die längst abgelaufene Nachspielzeit aufmerksam. Dann endlich der erlösende Pfiff. Die Spieler auf dem Platz reißen die Arme nach oben, fallen erschöpft zu Boden, die Ersatzspieler und Betreuer rennen auf den Platz und liegen sich in den Armen. EUROPAMEISTER! Endlich wieder ein großer Titel für den DFB.
So oder so ähnlich hat sich wohl auch Bundestrainer Jogi Löw den Abend des 11. Juli vorgestellt, wenn das EM-Finale im Londoner Wembley-Stadion ausgetragen wird. Nur ist die DFB-Elf in genau diesem Wembley-Stadion bereits zwei Wochen vor dem Ende des Turniers an England im Achtelfinale gescheitert. Lediglich die deutsche U-21-Nationalmannschaft sorgte mit ihrem EM-Titel in diesem Sommer für eine begeisternde Fußballstimmung bei den Fans.
In den vergangenen drei Endrunden stand die Nachwuchs-DFB-Elf immer im Finale der Europameisterschaft. 2017 holte das Team um Trainer Stefan Kuntz den Titel, 2019 unterlagen sie Spanien und dieses Jahr folgte der erneute Triumph. Mit dem Rücktritt von Toni Kroos steht der DFB unter Neu-Coach Hansi Flick vor einem enorm großen Umbruch. Doch der Blick auf die Zukunft der Nationalmannschaft sieht eher düster aus.
"Wir haben bei den Spielern, die nachrücken, nicht mehr die Dichte enormer Qualität. Deshalb haben wir uns von der Weltspitze entfernt", sagte Joti Chatzialexiou, der Sportliche Leiter Nationalmannschaften, im Juni im Magazin "11Freunde".
Und selbst U-21-Erfolgstrainer Stefan Kuntz macht für die kommende WM 2022 in Katar und der Heim-EM 2024 wenig Hoffnung auf Erfolg. "Vielleicht müssen wir uns auch damit befassen, dass Deutschland nur noch gehobenes Mittelfeld ist. Und kein Spitzenteam mehr", sagte er als ARD-Experte.
Ausgerechnet Kuntz, der die erfolgreichste Zeit der U-21-Nationalmannschaft zu verantworten hat und seit 2016 dafür sorgt, dass das Nachwuchsteam bei Turnieren als verschworene Einheit auftritt. Spielerisch sind sie nicht immer besser als der Gegner, aber die Mannschaften von Kuntz verkörpern die typisch deutschen Tugenden Leidenschaft, Kampf und Teamwork. Der Trainer schafft es zudem, eine perfekte Rolle für jeden Spieler zu finden. Da stört es auch nicht, dass fast alle Spieler für Klubs im unteren Drittel der Bundesliga, in der 2. Liga oder in kleineren Ligen wie Belgien oder Österreich auflaufen. Die Qualität, Deutschland in einem WM- oder EM-Finale zu repräsentieren, kann man sich jedoch nur bei den wenigsten vorstellen.
Aus seinem EM-Erfolgsteam war mit Serge Gnabry lediglich ein Spieler im Kader von Joachim Löw, der auch 2017 Europameister wurde. Doch der Bayern-Star enttäuschte und kam nie richtig ins Turnier. Er blieb ohne Treffer und wurde beim Ausscheiden in England erst nach 70 Minuten für Timo Werner eingewechselt.
Werner und Gnabry sind beide erst 25 Jahre alt und werden noch das ein oder andere Turnier unter dem neuen Bundestrainer Hansi Flick bestreiten. Toni Kroos wird dann definitiv nicht mehr dabei sein. Der Weltmeister von 2014 verkündete am Freitagmittag über Instagram seinen Rücktritt aus dem DFB-Team. "Den Entschluss nach diesem Turnier aufzuhören hatte ich schon länger gefällt. Es war mir schon länger klar, dass ich für die WM 2022 in Katar nicht zur Verfügung stehe", schrieb der 31-Jährige. Er wolle sich jetzt mehr um seine Familie kümmern und seine Ziele bei Real Madrid fokussieren.
Fraglich ist nun noch, wie es mit langjährigen oder erhofften Leistungsträgern wie İlkay Gündoğan, Thomas Müller und Mats Hummels weitergeht. Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff erklärte auf der letzten Pressekonferenz von Joachim Löw am Mittwoch noch, dass noch keiner der älteren Spieler auf ihn zugekommen sei, um über einen freiwilligen Rücktritt zu sprechen.
İlkay Gündoğan hat sich laut "Bild" bereits vor der EM im kleinen Kreis Gedanken über einen Rücktritt gemacht, er will über eine Zukunft erst nach seinem Urlaub entscheiden. Sollten der 30-Jährige wie Real-Star Kroos nicht mehr für die DFB-Elf auflaufen, könnte Flick ähnlich wie beim FC Bayern komplett auf das Mittelfeldduo Kimmich/Goretzka setzen.
Bei den Rückkehrern Mats Hummels und Thomas Müller könnten die Vorzeichen nicht unterschiedlicher sein. Beide spielten eine unglückliche EM – Hummels mit dem Eigentor gegen Frankreich, Müller mit der vergebenen Torchance gegen England. Dass Hummels künftig nicht mehr im DFB-Team aufläuft, gilt als ziemlich wahrscheinlich. Schon während der EM-Vorbereitung machte ihm seine Patellasehne immer wieder Probleme, nun steht auch in der kommenden Saison wieder die Dreifachbelastungen (Bundesliga, Pokal, Champions League) mit dem BVB an. Der 32-Jährige wird seinem Körper immer wieder pausen geben müssen.
Thomas Müller hingegen profitierte wohl wie kein anderer Spieler von der Amtsübernahme von Hansi Flick beim FC Bayern. Auch im DFB-Team wird Flick ihm alle Freiheiten lassen. Freiwillig wird Müller, der noch nie bei einer Europameisterschaft ein Tor geschossen hat, nicht zurücktreten.
Ob es dann mehr als ein Spieler aus dem Team von Stefan Kuntz U-21-Nationalteam in Flicks A-Team schafft, ist äußerst fraglich. Sollte Flick aber Kimmich zurück ins Mittelfeldzentrum beordern, dann steht mit Wolfsburg Ridle Baku auf der rechten Seite bereits eine gute Alternative bereit. Diesen Sommer verzichtete Löw auf den 23-Jährigen, der dafür bei der U21 brillierte. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie er mit der Dreifachbelastung beim VfL Wolfsburg klarkommt.
Als bester Torschütze des U21-Turniers machte auch Stürmer Lukas Nmecha nachhaltig auf sich aufmerksam. Nach dem Rücktritt von Miroslav Klose wäre er endlich wieder der erhoffte Mittelstürmer, der dem deutschen Spiel so sehr fehlt. Der 1,85 Meter große Angreifer ist enorm kopfballstark, aber eben auch technisch versiert.
So analysierte auch Oliver Bierhoff auf der Abschlusspressekonferenz zur EM am Mittwoch: "Der Killerinstinkt fehlt ein bisschen, wir haben auch keinen Strafraumspieler mehr." Genau so ein Spielertyp wäre Nmecha.
Das einzige Problem: Auf höchsten Niveau im Ligaalltag konnte er seine Klasse bisher aber noch nicht unter Beweis stellen. Zwar traf er in der abgelaufenen Saison in der belgischen Liga 14 Mal für den RSC Anderlecht, aber in der Bundesliga und der Premier League klappte es bisher noch nicht.
Eine sechsmonatige Leihe 2019 zum VfL Wolfsburg endete ohne Tor und mit lediglich vier Einsätzen. Noch gehört der 22-jährige Manchester City, doch unter Pep Guardiola wird der Stürmer dieses Jahr wohl wieder nicht arbeiten. Viel mehr gelten Frankfurt und Leipzig als Interessenten.
Doch abgesehen von Baku und Nmecha kann man aus dem U-21-Team nicht unbedingt einen neuen Manuel Neuer, Boateng, Hummels, Höwedes, Khedira oder Özil erwarten. Alle sechs wurden mit dem Nachwuchsteam 2009 Europameister und holten unter Jogi Löw 2014 auch den WM-Titel.
Diese Entwicklung ist Spielern wie Torhüter Finn Dahmen (Mainz 05), Abwehrspieler Nico Schlotterbeck (SC Freiburg), Kapitän Arne Maier (Hertha BSC) oder Mittelfeldmotor Niklas Dorsch (KAA Gent) wohl nicht zuzutrauen.
Auch Nationalmannschaftdirektor Oliver Bierhoff hat das Problem der fehlenden Nachwuchstalente bereits erkannt. Auf der Abschlusspressekonferenz zur EM am Mittwoch erklärte er, dass wieder mehr Wert auf Individualität und Technik gelegt werden müssen.
Zwar würden Talente wie Kai Havertz, Jamal Musiala und Florian Wirtz nachkommen, dennoch schaue man besorgt auf die aktuelle Entwicklung. "Das ist angesprochen, wir haben Maßnahmen genannt. Ich hoffe, dass sich der deutsche Fußball zusammentut und den Maßnahmen folgt", sagte Bierhoff. "Es ist eine Aufgabe des gesamten Fußballs, es geht nicht nur um ein paar junge Spieler bei einem Verein."
Und so fordert der 56-Jährige: "Wir müssen weiter junge Spieler einsetzen, dass sie in den Quali-Spielen Erfahrungen sammeln. Ich wünsche mir, dass wir wieder mehr U21-Spieler einbauen können." Dabei vertraut er jedoch auch auf den neuen Bundestrainer Hansi Flick: "Ich weiß, dass Hansi Flick nicht nur auf die U21 schaut, sondern auch auf den Jugendbereich."
Doch egal, wie das Personal am Ende aussehen wird. Vielleicht liegen sich die Spieler und Trainer Hansi Flick im Sommer 2024 in den Armen und feiern den EM-Titel ähnlich wie die U 21 in diesem Sommer. Ex-Bundestrainer Jogi Löw ist immerhin positiv gestimmt und werde der Mannschaft die Daumen drücken: "Mein Herz schlägt weiterhin Schwarz-Rot-Gold", sagt er am Mittwoch.