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EM: Deutschland ist raus, doch nun sehe ich, der Anti-Fan, was Fußball bedeuten kann

Weinende Fans bei der WM 2006 – auch diesmal holt Deutschland den Titel nicht.
Weinende Fans bei der WM 2006 – auch diesmal holt Deutschland den Titel nicht.bild: IMAGO / Müller-Stauffenberg
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Obwohl Deutschland raus ist bei der EM: Plötzlich sehe ich, der Anti-Fan, was Fußball bedeuten kann

01.07.2021, 08:33
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Ich hasse Fußball. Wirklich. Ich glaube, ich kenne niemanden, der eine so große Abneigung gegen diesen Sport hat wie ich. Ich finde wirklich jeden Aspekt davon furchtbar – angefangen bei den tödlich langweiligen Spielen über die betrunkenen Fußballfans, die sich tief in meine Seele gegrölt haben, bis hin zu dieser ach so tollen Grundstimmung, die bei jedem größeren Sport-Event herrscht. Ich finde das alles zum Kotzen.

Nun ist mir gestern etwas passiert, mit dem ich niemals gerechnet hätte:

Ich habe nicht nur (bewusst! Mit richtig bei Google eintippen!) nachgeschaut, wie das Spiel England gegen Deutschland ausgegangen ist. Sondern auch einen kleinen Stich gespürt, als ich das Ergebnis sah: Deutschland hat 2:0 verloren und ist raus. Irgendwie – traurig.

"Dieses Mal fühlt sich die EM irgendwie anders an."

Die EM 2021 war die erste, bei der ich nicht nur genervt war

Die EM 2021 ist das erste Fußball-Ereignis, bei dem ich etwas anderes gefühlt habe als Wut, Frust oder Ignoranz. Nichts habe ich gespürt beim Sommermärchen 2006, als die Deutschen bei der WM ihren Nationalstolz wiederfanden. Dass die deutsche Nationalmannschaft 2014 Weltmeister wurde, habe ich nahezu völlig von meiner Festplatte gelöscht. Und erst recht, dass sie 2018 bereits in der Vorrunde ausgeschieden sind.

Doch dieses Mal fühlt sich die EM irgendwie anders an – und mit Sicherheit hängt auch das, wie so vieles dieser Tage, mit der globalen Pandemie zusammen, die sich zumindest hierzulande im Ausklang zu befinden scheint. Ich glaube, weil dieses internationale Event wegen Corona immer noch leicht deplatziert wirkt, hat es Anti-Fußball-Fans wie mich nicht so genervt wie sonst – vielleicht, weil es nicht so aufdringlich ist. Ja, vielleicht hat es in mir sogar leichte Empathie geweckt mit den Menschen, die sich vorsichtig zu den ersten Public-Viewing-Events trauen. Und in Folge sogar einen Tacken Interesse an den Spielen geweckt (es ist ja schon auch bisschen spannend, dass die Ukraine im Viertelfinale ist).

"Endlich mal wieder entspannt mit Freunden zusammen draußen sitzen, in der Abendsonne ein Bier trinken – und ja, meinetwegen dann auch mal Fußball gucken."

Die EM wirkt dieses Mal nicht nur etwas verschoben, sie ist es de facto ja auch: Eigentlich hätte sie bereits 2020 stattfinden sollen und wurde Corona-bedingt abgesagt, wie quasi auch das ganze Leben abgesagt wurde in jenem Jahr.

Nachdem die Infektionszahlen in vielen Ländern stark gesunken sind, die Impfkampagne gleichzeitig voranschreitet, war (und ist) die EM eine dankbare Ablenkung von dem ständigen Pandemie-Blabla. Sie steht symbolisch dafür, dass wir abseits politischer Differenzen, die in den vergangenen eineinhalb Jahren noch mal besonders hochgekocht sind, wieder zusammenkommen. Nicht nur mental, auch physisch: Endlich mal wieder entspannt mit Freunden zusammen draußen sitzen, in der Abendsonne ein Bier trinken – und ja, meinetwegen dann auch mal Fußball gucken.

Und was diese EM noch ausmacht, außer dem "Corona ist ja irgendwie vorbei"-Gefühl: Selten habe ich ein Fußball-Event so politisch erlebt wie dieses. Zum ersten Mal habe ich als Fußball-Unbegeisterte verstanden, dass dieser Sport mehr sein kann, wie er die Massen mobilisiert. Wie eine Debatte darüber, ob ein Stadion in Regenbogenfarben angestrahlt werden darf, international Wellen schlägt. Wie darüber diskutiert wird, ob das Niederknien von Fußballern eine würdige Geste gegen Rassismus ist.

Bei dieser EM ist so viel zusammengekommen – ich hoffe, das bleibt

In der EM 2021 sind so viele Gefühle zusammengekommen, die uns in vergangener Zeit bewegt haben: die Erschöpfung, aber auch Aufbruchsstimmung nach der Corona-Krise. Die gesellschaftliche Debatte über die Gleichstellung aller sexuellen Orientierungen. Die Erinnerung an den Tod George Floyds. Die Black-Lives-Matter-Bewegung, die daraufhin so richtig in Fahrt kam – und vielen Menschen noch einmal deutlicher bewusst machte, auf welche Arten Rassismus in der Bevölkerung verankert ist.

"In solchen Momenten will man sich dann doch ein bisschen mitziehen lassen und sich gemeinsam freuen, wenn ein Tor fällt – oder auch gemeinsam trauern, wenn das bei der 'falschen' Mannschaft passiert, wie gestern bei England gegen Deutschland."

An all diese Emotionen und Bewegungen muss ich denken, wenn ich an die EM 2021 denke. Und ich sehe, wie wir im Fußball plötzlich einen gemeinsamen Nenner finden, der auch für andere Lebenslagen funktioniert. Und dieses positive Lebensgefühl nimmt solchen Anti-Fans wie mir auch die Abneigung vor dem Sport selbst. In solchen Momenten will man sich dann doch ein bisschen mitziehen lassen und sich gemeinsam freuen, wenn ein Tor fällt – oder auch gemeinsam trauern, wenn das bei der "falschen" Mannschaft passiert, wie gestern bei England gegen Deutschland.

Auch wenn unsere Nationalmannschaft jetzt raus ist: Ich hoffe, die Aufbruchsstimmung und das gute Gefühl bleiben. Man kann ja jetzt auf die Schweizer hoffen, hab' ich gehört.

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