Es sind wohl die problematischsten Olympischen Spiele aller Zeiten: die Olympischen Winterspiele in Peking. Wohl selten gab es vor den Wettkämpfen so viele Themen, bei denen sich Politik und Sport nicht voneinander trennen ließen. Und zudem zeigen die Spiele, dass Olympia schon lang nicht mehr das größte Fest der Welt ist, sondern für ganz andere Zwecke genutzt wird.
Warum ausgerechnet Peking 14 Jahre nach den Sommerspielen nun die Winterspiele ausrichten darf, wie die Boykottforderungen bewertet werden, was die Corona-Situation in China für eine Rolle spielt und warum der Umweltschutz noch nicht so wichtig ist – watson erklärt die wichtigsten kontroversen Punkte.
Dass Peking als erste Stadt nach den Sommerspielen 2008 auch die Winterspiele 2022 austrägt, ist kein Zufall. Zwar finden sie nicht direkt im Stadtkern statt, sondern etwa 100 Kilometer außerhalb des Zentrums, aber auch dieser Bereich gehört noch zum Verwaltungsbezirk Pekings.
Seit etwa zweieinhalb Dekaden setze China sehr stark darauf, den Sport im eigenen Land zu entwickeln. "Zunächst wurde in den Leistungssport investiert, der internationales Prestige verspricht. Seit 2008 wurde auch verstärkt auf den Breitensport gesetzt, um gesundheitsbezogenen und wirtschaftlichen Zielsetzungen Rechnung zu tragen", erklärt Jürgen Mittag, Professor für Sportpolitik an der Deutschen Sporthochschule in Köln, gegenüber watson.
Dadurch wolle China die Möglichkeiten des Sportes in hohem Maße nicht nur für politische, sondern auch für wirtschaftliche und soziale Zwecke einsetzen.
Anders als europäische Städte wie München, Oslo oder Stockholm, die nach Bedenken der Bevölkerung ihre Bewerbungen zurückzogen, wollte China diese Olympischen Spiele unbedingt haben.
Jürgen Mittag erklärt:
In der endgültigen Abstimmung konnten die IOC-Mitglieder somit lediglich für Peking oder Almaty in Kasachstan stimmen. In diesen Staaten herrschten aufgrund der Entwicklungen andere Rahmenbedingungen. "Proteste, Widerstände, Skepsis können von Regierungsseite relativ leicht ausgeblendet oder übergangen werden", sagt Mittag.
Deutschlands Rodel-Star Felix Loch hat eine klare Meinung zu einem möglichen Boykott: "Die Politik muss da ein klares Statement setzen, so wie es die Amerikaner und die Briten machen. Wir Sportler können da leider nur wenig machen. Für viele sind es die ersten und vielleicht auch die letzten Olympischen Spiele", sagt er im Gespräch mit watson.
Die USA, Großbritannien, Japan, Kanada, Australien, Belgien und Dänemark machten relativ schnell deutlich, dass sie die Spiele aufgrund der schlechten Menschenrechtslage und des Demokratieverständnisses in China diplomatisch boykottieren werden. Die Bundesregierung hält sich eher bedeckt und verwies immer wieder auf eine gemeinsame, europäische Lösung.
Klar ist bisher, dass weder Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, noch Bundeskanzler Olaf Scholz, Innenministerin Nancy Faeser, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht oder Außenministerin Annalena Baerbock nach Peking reisen werden. Die Bezeichnung eines diplomatischen Boykotts wurde bei ihren Absagen aber vermieden.
Die sportpolitische Sprecherin der SPD, Sabine Poschmann, erklärt gegenüber watson, dass sie es angesichts der Menschenrechtsverletzungen begrüßt, dass keine offizielle Delegation der Bundesregierung in Peking sein wird. Unterstützt wird dieser Vorschlag von Tina Winkelmann, sportpolitische Sprecherin der Grünen. "Ich würde mir wünschen, dass dies europäischer Konsens ist", sagt sie auf watson-Anfrage.
Das Fernbleiben hoher Regierungsmitglieder und Botschafter hätte laut Sportwissenschaftler Mittag auch eine gewisse Wirkung. "Dies würde zu einer Beeinträchtigung der Qualität und Wahrnehmung der Spiele führen." Besonders während zeremonieller Teile wie der Eröffnungsfeier.
Mittag erklärt:
André Hahn, sportpolitischer Sprecher der Linken, hält nur wenig von Boykotten sportlicher Großereignisse. "Sie bringen politisch wenig bis gar nichts, sie schaden aber immer dem Sport und treffen vor allem die Athletinnen und Athleten aus aller Welt", teilt er auf watson-Anfrage mit. Viel mehr könne die mediale Aufmerksamkeit dafür sorgen, "Korrekturen und grundlegende Änderungen" zu fordern.
"Das wäre insbesondere die Aufgabe von Politikern und hat häufig deutlich mehr Wirkung als Ausgrenzung und Boykotte. Man sollte die Sportler gerade in dieser Situation nicht allein lassen."
Ein sportlicher Boykott wäre auch für Wissenschaftler Mittag nicht "der probate Weg". Dies hätten bereits die Athletenboykotte der 1980er Jahre gezeigt, die im Rückblick kritisch gesehen werden. Nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan nahmen zahlreiche westliche Staaten, wie die USA und die Bundesrepublik Deutschland, nicht an den Sommerspielen 1980 in Moskau teil. Vier Jahre später in Los Angeles traten dann die Sowjetunion und 18 weitere Staaten nicht an.
"Die politischen Ziele wurden nicht erreicht und die Sportereignisse litten ebenso wie die Athleten selbst unter dem Boykott", sagt Mittag. Zudem seien die Winterspiele für die Athletinnen und Athleten ein herausragendes Event, das erhebliche Bedeutung für ihre Karrieren hat.
Auch Philipp Hartewig, sportpolitischer Sprecher der FDP, befürwortet ebenfalls einen politischen Boykott, hält ein Fernbleiben der Sportler aber für "wirkungslos".
Auch bei den Zuschauern fährt China eine knallharte No-Covid-Politik. Fans aus dem Ausland sind nicht zugelassen. Die Tickets werden durch die Behörden organisiert verteilt. Und auch die Sportler dürfen sich lediglich in ihrer klar abgeschotteten Blase bewegen. Die Athletinnen und Athleten werden nicht in Kontakt mit den Fans kommen.
Denn das Wohl und Wehe der Olympischen Spiele würde in der Nachbetrachtung davon abhängen, wie gut der Gastgeber mit der Corona-Situation umgegangen ist. "Wenn gewisse Sportarten umfassender von Coronainfektionen betroffen sind oder Wettbewerbe sogar abgesagt werden, könnten die Spiele zur Farce werden", erklärt Sportwissenschaftler Mittag.
Am Donnerstag war bekannt geworden, dass weitere sechs Mitglieder des deutschen Olympiateams nach Ankunft in China positiv getestet worden waren.
"Es wird vor allem darum gehen, dem Ausland perfekte Rahmenbedingungen und chinesische Organisationsstärke zu präsentieren. Nach innen soll vor allem die Identifikation mit dem eigenen Land gestärkt werden", fügt er hinzu.
Durch die Olympischen Winterspiele hofft die Regierung, etwa 300 Millionen Chinesen der Mittelschicht für Wintersport zu begeistern. "Es ist in Relation zur Gesamtgröße Chinas zwar immer noch ein Randphänomen, auch im Vergleich zu den Sommersportarten. Aber es entwickelt sich etwas, das durchaus bedeutsam ist", ordnet der Sportpolitik-Experte ein.
In der Vergangenheit habe laut Mittag gerade die Mittelschicht ihren Wohlstand in Autos und Wohnungen investiert. Doch mittlerweile sei das Reisen und Verreisen ein wichtiger Aspekt. "Chinesische Touristen sind durchaus auf den Skipisten in Österreich, Schweiz, Italien, Frankreich und Deutschland zu Hause."
Und besonders diese wintersportbegeisterte Mittelschicht habe in den vergangenen drei bis fünf Jahren ein zunehmendes Umweltbewusstsein entwickelt. "Es wird im verstärkten Maße darauf Wert gelegt, dass Umweltaspekten Rechnung getragen wird. Zwar deutlich unterhalb der westlichen Standards, die Sensibilität dafür aber wächst", erklärt der 51-jährige Sportwissenschaftler Mittag.
Dennoch: Die Gegend rund um Peking grenzt an die Wüste Gobi, es herrscht Wüstenklima. Die Winter sind zwar kalt, aber es gibt praktisch keine Niederschläge und somit kaum Schnee. An den Streckenrändern befinden sich immer wieder Schneekanonen, die Kunstschnee produzieren.
Doch Peking liegt in einem Wassernotstandsgebiet. Die Regierung lässt Wasser aus dem Süden des Landes umleiten, um die Stadt am Leben zu erhalten und nun zusätzlich Schnee zu produzieren. Noch in ihrer Bewerbung prahlte China mit "ergiebigen Wasserressourcen" nahe den Wettkampfstätten.
Daher fordert auch Rodler Felix Loch im Gespräch mit watson: "Das Thema Menschenrechte und vor allem auch die Nachhaltigkeit muss in die nächsten Vergabeprozesse einbezogen werden. Weder auf der Rodelbahn noch auf den Skisprungschanzen oder den Pisten werden wahrscheinlich nach Olympia noch internationale Wettkämpfe stattfinden."