From zero to hero – innerhalb von 25 Jahren. Das könnte demnächst auf England-Trainer Gareth Southgate zutreffen.
1996 verschoss er noch im Halbfinale der Europameisterschaft den entscheidenden Elfmeter gegen Deutschland, schied mit England aus und war total enttäuscht.
Jetzt besiegte er als Trainer der "Three Lions" im Achtelfinale die deutsche Nationalmannschaft und hat gute Karten, im Turnier sehr weit zu kommen.
Die Engländer sind im leichteren Teil des Turnierbaums, spielen erst gegen die Ukraine und würden bei einem Sieg im Halbfinale auf Dänemark oder Tschechien treffen. Eine richtig große Fußballnation könnte erst im Finale warten.
Ex-Bundestrainer und aktueller BBC-Experte Jürgen Klinsmann schätzt die englischen Chancen gegenüber watson für einen EM-Sieg sehr hoch ein. "Ab jetzt ist alles möglich – auch der Titelgewinn, den ich dieser Mannschaft absolut zutraue. Völlig unabhängig vom Turnierbaum. Die Mannschaft ist sehr stabil – vor allem ist es schwer, gegen sie zu spielen und sie zu besiegen."
Im November 2016 übernahm der ehemalige Innenverteidiger die englische Nationalmannschaft, erreichte schon bei der WM 2018 das Halbfinale – erstmals seit 1990.
Der englische Journalist Dan Ragusa erklärt: "Southgate hat die Mentalität der Mannschaft geändert. Es gibt keine Diskussionen in der Umkleidekabine zwischen Spielern von rivalisierenden Klubs, wie früher bei Frank Lampard (Chelsea) und Steven Gerrard (Liverpool) oder John Terry (Chelsea) und Rio Ferdinand (Manchester United)."
Im englischen Lager herrsche jetzt eine gute Atmosphäre. Auch Klinsmann lobt Southgate: "Er hat es geschafft, eine Mannschaft mit einer guten Mischung und mit viel Disziplin auf den Platz zu schicken. Er hat auch die richtige Ausgewogenheit zwischen Defensive und Offensive gefunden und sich nicht beeinflussen lassen."
Das zeigt sich besonders in den Startaufstellungen. Southgate ließ Jadon Sancho und Jack Grealish auf der Bank – trotz medialem Druck. Das fordert Mut. Und gab Erfolg.
Bukayo Saka spielte auf der Sancho-Position und überzeugte bei seinen Einsätzen gegen Tschechien und Deutschland. Grealish kam gegen DFB-Team erst in der 2. Halbzeit, leitete das erste Tor ein und bereitete den zweiten Treffer direkt vor.
Ragusa über Grealish: "Southgate nutzt ihn als Super-Joker. Gegen Deutschland war er nach seiner Einwechslung direkt an den beiden Toren beteiligt. Jack Grealish ist definitiv der Fan-Liebling in diesem Turnier."
Dazu forderten viele Fans, dass Raheem Sterling auf die Bank müsse. Southgate hielt an ihm fest. Der Angreifer dankte mit drei Toren in vier Spielen – no Sterling, no Party!
Aber: Nicht nur bei den Personalentscheidungen liegt Southgate aktuell richtig. Auch die Abwehrarbeit hat der 50-Jährige verbessert. In vier EM-Spielen haben die Engländer noch kein Gegentor kassiert.
Journalist Ragusa erklärt: "England hat nicht die besten Verteidiger der Europameisterschaft – vermutlich ist sie sogar unser Schwachpunkt. Der Fakt, dass das englische Team noch kein Gegentor bekommen hat, geht also voll auf Southgate. Sie haben kaum einen Schuss gegen uns zugelassen in der ganzen EM. Das ist das Ergebnis von harter Arbeit und starkem Pressing."
Dazu kommt die taktische Variabilität. In der Gruppenphase ließ Southgate mit Viererkette spielen, gegen Deutschland wurde es die Fünferkette.
Mit den englischen Erfolgen steigt auch die Begeisterung und die Erwartung in der Bevölkerung. Klinsmann erzählt gegenüber watson: "Ich pendle zwischen Manchester und London und spüre diese Hoffnung der Menschen, wieder einen Titel zu holen. Natürlich gibt es auch eine große Erwartungshaltung – aber das ist die logische Konsequenz."
Bestes Beispiel: England-Legende und Premier-League-Rekordtorjäger (260 Tore) Alan Shearer.
Er schreibt bei "The Athletic": "Wir haben eine Chance, oder nicht? Ich sage nicht, dass wir ins Finale kommen müssen oder gewinnen, aber wir haben eine Chance, eine gute. Vielleicht wird es nie wieder eine bessere geben."
Gewinnt England gegen die Ukraine steigen diese Chancen. Und Southgate stünde mit England wieder in einem EM-Halbfinale. Wie zuletzt 1996. Als sein verschossener Elfmeter das England-Aus besiegelte. Jetzt könnte er zum Helden der Fans werden. From zero to hero eben.