Marcus Rashford, Jadon Sancho und Buyako Saka verschossen im Finale der Europameisterschaft ihre Elfmeter. So etwas ist schon anderen großen Fußballern vor ihnen passiert. Der Unterschied offenbar: ihre Hautfarbe. Die drei Jungstars der englischen Nationalmannschaft wurden nach der Niederlage gegen Italien vor allem über die sozialen Netzwerke massiv rassistisch beleidigt. Dass das genau so passiert ist, verwunderte Experten im Nachhinein nicht.
Zwar sei Rassismus heutzutage keine staatstragende Ideologie mehr, aber doch ein "strukturelles Hintergrundrauschen", erklärt der Soziologe Aladin El-Mafaalani gegenüber watson. "Das wird dann vor allem in strukturellen Krisensituationen wirkmächtig. Für Fußballfans ist sowas eben ein verlorenes Elfmeterschießen", sagt der Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. In solchen Situationen brauche man gar nicht viel von unserer Gesellschaft zu erwarten, denn dort würden rassistische Denkmuster aufbrechen.
Doch wieso brechen diese Denkmuster ausgerechnet im Fußball so häufig auf? Die Sportart, die doch angeblich Leute aller Herkunft auf dem Platz und auf der Tribüne zusammenbringt. Und kann es überhaupt einen Sport ohne Rassismus geben?
Gerd Wagner, Rassismus-Experte der Koordinationsstelle Fanprojekte in Frankfurt/Main, sagt: "Der Fußball hat dieses 'Wir gegen die Anderen' in sich und das kommt einfach deutlicher zum Tragen als bei allen anderen Sportarten." Zudem entstehe gerade bei internationalen Turnieren eine Identifikation und ein Nationalstolz über die Erfolge der eigenen Nationalmannschaft.
Dieser Stolz wurde in Großbritannien vor allem durch die Politik von Boris Johnson und dem Brexit in der Vergangenheit zusätzlich gestärkt. Nun hatte die englische Nationalmannschaft am vergangenen Sonntag die Chance, das erste Mal seit
55 Jahren wieder einen internationalen Titel im Fußball zu gewinnen, daher sei die Stimmung nochmal besonders emotional und aufgeladen gewesen.
"Das kann dafür sorgen, dass die Grenze zwischen Nationalstolz und übersteigertem Nationalstolz verschwimmt und gewisse rassistische Vorurteile, die man in sich trägt, gefördert werden", sagt Wagner.
Soziologe El-Mafaalani erklärt jedoch auch, dass diese rassistischen Vorurteile keine Einzelphänome seien, sondern jeder Mensch diese ausnahmslos in sich trägt.
"Irgendwann sind die rassistischen Vorurteile, die man gegenüber jeder Gruppe an Menschen kennt, da. Es kommt nur noch darauf an, ob ich daran glaube oder nicht. Nicht, ob es mir am Wissen mangelt", sagt El-Mafaalani. "Das rassistisch strukturierte Wissen ist eigentlich überall präsent." Die Frage, die sich eher gestellt werden muss, ist, wann man diesen strukturellen Rassismus bewusst widerspiegelt. Denn weder bei Kindergartenkindern, noch bei Grundschülern ist diese Form des Rassismus präsent.
Laut Malcolm Ohanwe erkennt man aber immer wieder ähnliche Muster. "Es geht um viel mehr als Sport, es geht um eine Würde, eine Daseins-Berechtigung, ein Mensch-sein, das an widerwärtige Bedingungen geknüpft ist. Du musst treffen, leisten und abliefern und wenn du das nicht tust, gibt es immer eine Waffe, die gegen dich angewandt werden kann. Den Fakt, dass du nicht weiß bist", erklärt der Journalist gegenüber watson. Ohanwe spricht auch gemeinsam mit Marcel Aburakia in seinem Podcast "Kanakische Welle" über das Thema Identität in Deutschland.
Auch die Grünen-Politikerin Aminata Touré schrieb einen Tag nach dem Finale bei Twitter: "Hatte gehofft, dass keine Schwarzen Spieler die Elfmeter schießen müssen, weil klar war, dass sie mit rassistischem Dreck beworfen werden, sollten sie nicht gewinnen. Und dieser Gedanke ist schon bitter, weil man genau weiß, dass man nur akzeptiert wird, wenn man gewinnt."
Und Ohanwe erzählt: "Fast jeder Schwarze im Sport hat schon mal gehört, er sei so schnell oder so körperlich, auch wenn es wissenschaftlich keine seriösen Anhaltspunkte dafür gibt." Den meisten Fußballspielern of Color oder migrantisch gelesenen Spielern würden sehr früh aufgrund ihres Aussehens bestimmte Fähigkeiten zu- oder abgesprochen werden.
Hätten statt Rashford, Sancho und Saka drei weiße Spieler die Elfmeter vergeben, hätte "es auch Theater gegeben, aber es wäre nicht rassistisch gewesen", sagte El-Mafaalani. "Es wäre Fußball-Ärger geblieben und diese drei Personen wären als Personen wahrgenommen worden und nicht als Vertreter von einer kollektiven Gruppe, auf die man jetzt verbal drauf prügeln kann."
Verbal wurde auch auf das englische Team vor dem Turnier eingeprügelt, als es sich vor Testspielen kurz vor EM-Beginn hinkniete, um eben gegen Rassismus zu demonstrieren. Eine Geste, die in der englischen Premier League vor Spielen schon lange normal ist. Bei den Testspielen gab es anschließend zahlreiche Buhrufe. Auch während der EM gingen die "Three Lions", aber auch Belgien, Schottland und schließlich auch die DFB-Elf auf die Knie, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Die Zuschauer quittieren das stets mit einem Mix aus Applaus und mal leiseren oder lauteren Buh-Rufen.
Die britische Innenministerin Priti Patel hatte wie Premierminister Boris Johnson zuvor Verständnis für Menschen gezeigt, die ihren Unmut über das Knien der Spieler sowie die Bewegung "Black Lives Matter" äußerten und die Geste als Symbolpolitik bezeichnet. Am Montag zeigte sich Patel nun "angeekelt" von den rassistischen Beleidigungen gegen die englischne Spieler – diese Inkonsequenz missfiel unter anderem Englands Verteidiger Tyron Mings, der Patel nicht so leicht davonkommen lassen wollte.
"Man kann nicht zu Beginn des Turniers das Feuer schüren, in dem man unsere Anti-Rassismus-Botschaft als "Symbolpolitik" bezeichnet & dann vorgeben, angeekelt zu sein, wenn genau das passiert, gegen das wir uns einsetzen", schrieb der 28-Jährige auf Twitter.
Auch Malcolm Ohanwe kritisiert, dass viele Leute leider nur in absoluten Extremen denken würden und das Problem erst erkennen, wenn es schon zu spät sei. "Wie man spricht, womit man sich gedanklich auseinandersetzt, das ist nicht nur Symbolpolitik, das kann der erste Stein sein, der ein Umdenken ins Rollen bringt, und jemanden vielleicht dazu bringt, einzuschreiten, wenn er Rassismus wahrnimmt."
Von den drei englischen Spielern, die nun rassistisch angefeindet wurden, äußerte sich Marcus Rashford bisher als einziger auf den sozialen Netzwerken. Malcolm Ohanwe hat dabei für beide Handlungsweisen Verständnis. "Manchmal ist schweigen einfach der beste Weg. Ich habe aber Respekt für jede Person, die sich bei sowas traut, nach vorn zu gehen."
In einem emotionalen Twitter-Statement ging der 23-jährige Rashford verbal in die Offensive. "Ich kann mir Kritik anhören, mein Elfmeter war nicht gut genug. Aber ich werde mich niemals dafür entschuldigen, wer ich bin und wo ich herkomme", schrieb der 23-Jährige. Er teilte zudem rührende Bilder von solidarischen und aufmunternden Briefen, die Kinder ihm geschickt hatten. In seiner Heimatgemeinde Withington im Süden Manchesters überdeckten Fans ein zuvor rassistisch beschmiertes Wandgemälde, das Rashfords Porträt zeigt, mit Liebesbriefchen, kleinen Herzen und aufmunternden Worten.
Auch Englands Kapitän Harry Kane machte unmissverständlich klar: "Wenn du jemanden in den sozialen Medien beschimpfst, bist du kein England-Fan und wir wollen dich nicht."
Dabei ist Hass und Rassismus in den sozialen Netzwerken nicht nur Problem der englischen Nationalmannschaft, sondern auch alle Klubs auf der Insel.
Anfang Mai boykottierten die Vereine der Premier League, der EFL (2. Liga) der FA und der Women's Super League alle Social-Media-Kanäle. Damit wollte der englische Fußball ein Zeichen gegen Rassismus, Hass und Diskriminierung im Internet setzen.
Im Vorfeld des Boykotts sagte der Chef der Premier League, Richard Masters: "Rassistisches Verhalten in jeglicher Form ist inakzeptabel und die entsetzlichen Beschimpfungen, die wir bei Spielern auf Social-Media-Plattformen sehen, dürfen nicht weitergehen. Social-Media-Unternehmen müssen mehr tun, um Rassismus und Diskriminierung zu beseitigen."
Und der englische Fußball ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland ist und bleibt vielen Menschen als das "Sommermärchen" im Kopf. Deutschland erwies sich als sensationeller Gastgeber und die Atmosphäre im Land war sehr positiv. Die gute Stimmung war vor allem geprägt durch die unerwartet starken Leistungen des DFB-Teams, das ins Halbfinale einzog und dort auf Italien traf.
"Da war dann von der großen Freude und Gastfreundschaft nichts mehr viel übrig. Da gab es schon einen gesteigerten Hass gegenüber Italienern", erinnert sich Gerd Wagner von der Koordinationsstelle Fanprojekte.
Auch zwölf Jahre später gab es im Vorfeld der WM nach dem Foto der Nationalspieler Mesut Özil und İlkay Gündoğan mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recip Tayyip Erdogan einen ähnlichen rassistischen Shitstorm in Deutschland wie aktuell in England.
"Bei der Özil-Debatte gab es auch Menschen, die sich nie als rassistisch ansehen würden und auch kein geschlossenes Weltbild haben, aber Dinge gesagt haben, die ziemlich rassistisch sind, wenn man sie genau anschaut", sagt Soziologe El-Mafaalani. Doch besonders die Situation um Özil mache deutlich, wie komplex und schwierig dieses Thema sei. "Man musste das kritisieren, aber gleichzeitig hat man die rassistischen Tendenzen gegenüber den Fußballspielern und vielen türkischstämmigen Menschen total verstärkt."
Daher wünscht sich auch Fanforscher Wagner, dass man gerade als Mensch mit weißer Hautfarbe einen Perspektivwechsel einnehmen sollte, um zu verstehen, was solche Situationen für die Menschen bedeutet.
"Es bringt nichts, von außen darüber zu urteilen, ob das jetzt gut oder schlecht war, oder ob man kleinreden muss, was in den sozialen Netzwerken an den Hasskommentaren stattfindet", sagt Gerd Wagner.
Um das Problem Rassismus im Fußball zu bekämpfen, sehen viele Beobachter nun vor allem den eher konservativen englischen Verband FA in der Pflicht.
Doch mehr als ein Statement von FA-Präsident Prinz William zu den Vorfällen gab es bisher noch nicht. "Ich bin angewidert von den rassistischen Beschimpfungen, die nach dem Spiel gegen die englischen Spieler gerichtet wurden."
Dass der Rassismus aber demnächst aus dem Sport und dem Fußball verschwindet, glaubt keiner der Experten. "Von dieser Vorstellung muss man sich in der Gegenwart erstmal verabschieden", erklärt Soziologe El-Mafaalani. Und Fanbetreuer Wagner fügt hinzu: "Der Fußball spiegelt auch das wider, was in anderen gesellschaftlichen Bereichen oder politischen Diskussionen zutage kommt." Und da es keine Gesellschaft ohne Rassismus gebe, könne es auch keinen Sport ohne Rassismus geben.
Ein wichtiger Ansatz sind für Soziologe El-Mafaalani aber vor allem die Sanktionen, wodurch die Verbände bereits viel erreicht hätten. Doch der 43-Jährige nimmt auch die Politiker und ihre Äußerungen in die Pflicht, die in dieser Debatte einen enormen Einfluss haben. Und Malcolm Ohanwe hofft, dass der Sport in Zukunft zumindest etwas rassismuskritischer ist. Doch auf die Frage, ob es einen Sport ohne Rassismus geben kann, antwortet auch er ganz direkt: "Nein!".