Kroatien ist Fußball-Vizeweltmeister. Auch einen Tag nach der bitteren Finalniederlage gegen Frankreich wirkt der Erfolg des 4,5-Millionen-Landes unwirklich. Modrić, Rakitić und Co. haben ihre Heimat ein für alle mal auf die Karte gepackt – und wurden dabei tatkräftig von einer Meisterin der Selbstdarstellung unterstützt.
Kroatiens Staatspräsidentin Kolinda Grabar-Kitarović war nach dem brillanten 3:0-Erfolg gegen Argentinien omnipräsent. Keine Zeitung, kein Internetportal kam ohne Bilder der ausgelassen, im ikonischen rot-weiß-karierten Trikot feiernden Politikerin aus. Kolinda war überall.
Auch beim Finale im Moskauer Luschniki-Stadion saß die 50-Jährige im Fanshirt zwischen Putin und Macron auf der Ehrentribüne, jubelte und litt mit ihrer Nationalmannschaft. Nach Abpfiff knutschte sie jeden und alles – sogar den WM-Pokal, den zu Berühren nur Weltmeistern vorbehalten ist.
Grabar-Kitarović nutzte ihre letzte große Bühne in Russland vollkommen aus, was manchen gegen den Strich ging, den meisten Zuschauern jedoch zu gefallen schien. Die Metzgerstochter, die vor ihrer Wahl im Jahr 2015 Abgeordnete und Ministerin für die national-konservative HDZ war, ist nämlich die perfekte Personifizierung Kroatiens: emotional, impulsiv, euphorisch, patriotisch, hübsch anzusehen. So zumindest der äußere Eindruck.
Die Weltöffentlichkeit wurde durch Grabar-Kitarović das Bild des lebensfrohen Kroatiens verkauft. Die wirtschaftlichen und demographischen Probleme, mit denen der Adria-Staat im politischen Alltag zu kämpfen hat, bleibt ihr – ebenso wie für die Millionen Touristen, die jährlich zwischen Pula und Dubrovnik im azurblauen Meer plantschen – verschlossen.
Denn auch wenn Grabar-Kitarović in den vier Wochen der WM zum Gesicht der modernen, europäischen Konservativen geworden ist, kann ihr Charisma und ihre Instagram-Filterblase nicht kaschieren, dass sie seit ihrem Amtsantritt politisch kaum etwas geleistet hat.
Zwar übernimmt sie als Staatspräsidentin, ähnlich wie etwa Frank-Walter Steinmeier, vor allem repräsentative Aufgaben, ihr Kompetenzenbereich ist jedoch im Vergleich zu ihrem Amtskollegen aus Deutschland deutlich größer: sie darf nicht nur in den Regierungs- und Parlamentsalltag eingreifen, sondern gestaltet insbesondere die Außenpolitik aktiv mit.
Trotz dieser Machtfülle ist Grabar-Kitarovićs Haben-Seite als Präsidentin äußerst dünn befüllt. Einige Kommentatoren spotten sogar, ihr größter politischer Erfolg sei gewesen, dem kroatisch-stämmigen Popstar Lorde beim Staatsbesuch in Neuseeland die kroatische Staatsbürgerschaft überreicht zu haben.
Grabar-Kitarović selbst legt ihr Augenmerk vor allem auf die Verbesserung in den Beziehungen zu den weiteren ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens: Sie reist nach Srebrenica und gedenkt den Opfern des Massenmordes, bietet der in die EU strebenden mazedonischen Regierung ihre Hilfe an und fiebert für Serbiens Tennisgröße Novak Đoković. Das alles öffentlichkeitswirksam auf ihrem Instagram-Account festgehalten.
Darüber hinaus engagiert sich Grabar-Kitarović besonders für den Erhalt der Kroaten als eines von drei konstitutionell geschützten Völker im multi-ethnischen Bosnien-Herzegowina. Zusammen mit ihrem Vertreten katholischer Grundwerte in der Familienpolitik erklärt dieser Einsatz ihre Beliebtheit in national-konservativen Kreisen.
Trotz ihres sympathischen Auftretens bei Sportgroßereignissen wie der Fußball-WM und ihres unstrittigen Gespürs fürs diplomatische Parkett, wird Kolinda Grabar-Kitarović in der Retrospektive vor allem an einem gemessen werden: ob sie entscheidendes gegen den Brain Drain, der Kroatien einen dramatischen demographischen Wandel aufzwingt, bewirken kann.
Bereits heute leben über drei Millionen Kroaten im europäischen Ausland, täglich kommen im Schnitt 41 dazu, die Hauptstadt Zagreb ist die am schnellsten schrumpfende Großstadt Europas. Die, die keine Zukunft im von Vetternwirtschaft und alten Eliten dominierten kroatischen Alltag sehen, sind oftmals jung und gut ausgebildet. Das Pro-Kopf-Jahreseinkommen liegt gerade einmal bei 13.000 US-Dollar, die Wirtschaftskraft speist sich zu über 20 Prozent aus der Tourismus-Branche. ("Spiegel Online")
Doch weder der Regierung um Premierminister Andrej Plenković noch der mächtigen Staatspräsidentin fallen Lösungen ein. Stattdessen wird der poröse Großkonzern Agrokor zwangsverstaatlicht und mit Krediten am Leben gehalten. Momentan verblendet die Euphorie über die Vizeweltmeisterschaft die kroatische Öffentlichkeit und schiebt die wirklich wichtigen Themen auf die lange Bank.
Um diese Probleme zu lösen, wird Kolinda Grabar-Kitarović noch mehr Einsatz zeigen müssen als auf der Ehrentribüne des Moskauer Luschniki-Stadions.