2018 hat sich die deutsche Nationalmannschaft bereits nach der WM-Gruppenphase verabschiedet, 2021 war im EM-Achtelfinale Schluss und 2022 setzte es das nächste WM-Aus nach den Gruppenspielen. Die vergangenen Jahre, das lässt sich so zusammenfassen, hat sich der deutsche Fußball in eine Krise manövriert.
Der Abwärtstrend begann unter Joachim Löw, Hansi Flick konnte ihn nicht stoppen, nun soll mit Julian Nagelsmann der dritte Bundestrainer in drei Jahren die Wende bringen. Knapp acht Monate vor dem Beginn der Heim-EM mutet es wie eine Herkulesaufgabe an.
"Wer jetzt denkt, dass Nagelsmann kommt und die grundlegenden Probleme des deutschen Fußballs lösen kann, der täuscht sich gewaltig", sagte Joachim Löw im Podcast "Spielmacher – Der EM-Talk mit Sebastian Hellmann und 360Media". Das wollte der Weltmeister-Coach aber keinesfalls als Kritik an seinem Nach-Nachfolger verstehen.
Der 63-Jährige hält große Stücke auf den neuen Bundestrainer, die Probleme aber liegen tiefer: "Für die EM oder die nächsten Jahre kann er schon etwas Positives bewirken. Aber wenn der deutsche Fußball so weitermacht, wird er über Jahre nicht mehr in der Weltspitze sein."
Löw sprach dabei bewusst vom deutschen Fußball, nicht vom DFB. "Der DFB ist nicht allein verantwortlich. Vereine machen die Ausbildung, Vereine geben die Inhalte vor. Vereine stellen ihre Trainer an. Da haben wir Defizite", sieht er vor allem die Klubs in der Verantwortung. Folglich dürfe man nicht alles, was schlecht läuft, "auf den DFB projizieren".
Man müsse also in den Klubs ansetzen – und diesbezüglich hat der Weltmeister-Trainer klare Vorstellungen. "Wir müssen vor allem in der Fortbildung ansetzen", forderte er und schob zugleich eine Erläuterung hinterher: "Spieler kommen mit 18 Jahren zu den Profis und sind hochbegabt. Aus meiner Erfahrung könnte ich einige Spieler nennen, die mit 18 oder 19 sehr gut waren – mit 23 Jahren aber auf dem gleichen oder gar schlechteren Niveau. Das ist für mich bedenklich. Da ist der Systemfehler."
In Deutschland lege man laut Löw zu großen Fokus auf mannschaftstaktisches Training. "Das ist auch wichtig, aber den Fortschritt gibt es in der Individualisierung auf den einzelnen Positionen. Da müssen wir besser werden. Ganz unten in der Ausbildung, vor allem aber im Alter von 18 bis 23. Da darf es nicht aufhören, da beginnt es erst richtig!"
Der frühere Bundestrainer fordert daher spezifische Einheiten für einzelne Spieler, die mit dem Trainerteam genauestens abgestimmt sind. Dort sieht er einen Hebel, um langfristig wieder mehr Erfolg zu haben. Der Blick zurück nervt ihn hingegen.
"Ich kann es nicht mehr hören, wenn Trainer und sogenannte Experten immer mit den 'Deutschen Tugenden' ankommen", beschwerte sich Löw. Der Ruf nach Kampfgeist, Einsatzfreude und Herzblut sei eine fatale Botschaft an alle. "Wenn jemand denkt, mit deutschen Tugenden könnte man heute Spiele gewinnen, täuscht er sich gewaltig. Das höre ich viel zu oft", sagte Löw.
Für die DFB-Teams und die Bundesligisten gelte es, "durch spielerische Akzente" die Partien zu gewinnen: "Wir in Deutschland müssen taktische und technische Fortschritte machen, das haben wir versäumt. Da müssen wir ansetzen. Das ist der Inhalt."
Denn nur kämpfen könnten kleinere Nationen auch, Löw sprach diesbezüglich von den Basics und zog einen interessanten Vergleich: "Jemand hat mal gesagt, dass du das Einmaleins beherrschen musst, um Mathematik-Professor zu werden."
Über Einsatz, Laufbereitschaft oder Kampfgeist habe er mit seinen Profis aber kaum sprechen müssen, denn es sei auch für sie die Basis, auf der sie sich zu gestandenen Fußballprofis entwickelt haben.
Dass einzelnen Spielern in Anlehnung an die benannten Tugenden immer wieder der Einsatz abgesprochen wird, geht Löw ebenfalls gegen den Strich. "Die Nationalspieler sind auch deshalb so weit gekommen, weil sie über Jahre eine Durchsetzungsfähigkeit hatten. Wenn jemand glaubt, dass diese Spieler zu wenig Einsatz oder Kampfgeist bringen, täuscht man sich gewaltig", fand er deutliche Worte.
Dabei schob er noch einen kleinen Seitenhieb gegen nicht benannte Ex-Profis hinterher: "Die Spieler von heute – Toni Rüdiger, Jo Kimmich, İlkay Gündoğan, ich könnte viele nennen – stimmen ihren ganzen Tagesablauf auf den Fußball ab. Das sind Profis durch und durch. Und zwar ganz anders als die Spieler vor 15, 20 Jahren. Sie wollen immer gewinnen. Aber sie brauchen andere Lösungen als 'du musst mehr kämpfen'".
Ob diese altbackene Phrase damit in den kommenden Monaten aus der Fußballberichterstattung verschwindet, bleibt abzuwarten. Der Entwicklung des deutschen Spiels könnte es aber durchaus guttun – und Joachim Löws Blutdruck sowieso.