Nur ein Tor nach zahlreichen Großchancen, nur ein Punkt trotz Führung und nur Platz vier in der Tabelle: Der FC Bayern München war nach dem 1:1 im Spitzenspiel gegen Tabellenführer RB Leipzig ziemlich gefrustet. Vor allem Trainer Niko Kovac muss sich mal wieder Kritik von Fans und sogar den eigenen Spielern zu seiner Taktik anhören – weil ihn sein Gegenüber ausgecoacht hat.
"In der ersten Halbzeit war es das beste Spiel, seitdem ich hier bin. Wir haben es natürlich versäumt, das zweite oder dritte Tor zu machen", fasste Kovac nach der verpassten Tabellenführung zusammen. "Unterm Strich bin ich nicht zufrieden, weil wir von den Chancen her das Spiel hätten gewinnen können." Das untermauern vor allem die Zahlen der ersten Halbzeit, in der die Bayern dominante 74 Prozent Ballbesitz hatten und Torhüter Manuel Neuer nicht eine ernstzunehmende Chance parieren musste.
Schon nach drei Minuten hatte Thomas Müller dem Nationalspieler Lukas Klostermann den Ball abgeluchst, und Robert Lewandowski vollendete mit seinem siebten Saisontor zum 1:0 für die Bayern. Fortan deklassierten die Bayern RB mit ihrer erdrückenden Dominanz.
Der Leipziger Dreierkette in der Abwehr und Sechser Konrad Laimer fanden keinen Zugriff auf die bayerische Offensivreihe. Nach einer halben Stunde hätte der FC Bayern nach drei weiteren hochkarätigen Torchancen auch gut und gerne mit vier Toren führen können. "Ich kann mich nicht daran erinnern, mal so eine dominante erste Hälfte erlebt zu haben, seit ich bei Bayern bin", sagte Nationalspieler Niklas Süle. Auch RB-Trainer Julian Nagelsmann musste das anerkennen: "In der ersten Halbzeit war es für uns wie ein Waldlauf ohne viel Fußball."
Doch die Leipziger hatten Glück: Nach einem Fehlpass von Thiago foulte Lucas Hernández den RB-Angreifer Yussuf Poulsen an der Strafraumkante. Den fälligen Elfmeter verwandelte Emil Forsberg (45.+3 Minute). "Diesen Elfmeter nach so einer Halbzeit zu bekommen, ist natürlich ein Geschenk", erklärte der Torschütze nach dem Spiel.
Ein taktischer Kniff von Trainer Nagelsmann brachte die Leipziger in der zweiten Hälfte dann zurück ins Spiel.
Der 32-jährige Coach stellte von Dreier- auf Viererkette um, um somit einen weiteren Spieler im defensiven Mittelfeld zu bringen. Diego Demme unterstützte als zweiter Sechser den bis dato überforderten Laimer. Dadurch spiegelte Nagelsmann das System der Bayern und bekam so Zugriff auf das bayerische Mittelfeld. Mit dem zusätzlichen Druck und dem aggressiven Anlaufen kamen die Bayern fortan nicht mehr zurecht und ließen sich zu Fehlern hinreißen. Das vorher so einseitige Spiel entwickelte sich zum offenen Schlagabtausch.
Nach einem positionsgetreuen Wechsel (Flügelstürmer Alphonso Davies für Flügelstürmer Serge Gnabry in der 62. Minute) brachte Kovac den defensiveren Corentin Tolisso für Thomas Müller in der 63. Minute. Viel half das jedoch nicht, Leipzig kam zu gefährlichen Torchancen. Kovac erklärte nach dem Spiel bei "Sky": "Es ist natürlich schwierig, während des Spiels Einfluss zu nehmen auf die Mannschaft. Die Halbzeitpause ist der beste Zeitpunkt, um etwas zu korrigieren."
Dass Nagelsmann auch während des Spiels umstellte, war keineswegs überraschend. Nagelsmann, der zu Hoffenheimer Zeiten manchmal für seine häufigen Anpassungen im Spiel kritisiert wurde, hatte die Wichtigkeit der Vielseitigkeit schon vor dem Spitzenspiel um Platz eins betont: "Ich versuche, einen Plan zu entwickeln, der beides – offensives und defensives Spiel – erlaubt. Bayern München ist eine Mannschaft, die gern den Ball hat. Es wird die ein oder andere Verteidigungsaufgabe auf uns zukommen. Aber wir dürfen unser eigenes Offensivspiel nicht außer Acht lassen." Dementsprechend kritisch wurden die Bayern-Profis.
"Wir wissen, dass Julian Nagelsmann umstellen kann. Das ist nichts Überraschendes", erklärte Keeper Manuel Neuer. "Wir müssen darauf reagieren, mutiger sein und mit dem Selbstverständnis der ersten Halbzeit weitermachen." Eine klare Botschaft an den eigenen Trainer. Auch Thomas Müller zeigte sich unzufrieden: "Wir haben zu lange gebraucht, um uns von der Aggressivität und der Zweikampfführung her darauf einzustellen", sagte Müller und forderte: "Ich würde mir wünschen, dass wir uns etwas früher darauf einstellen und schneller reagieren." Trotz des Unentschiedens kürten Fans und Experten Nagelsmann zum Sieger im Coaching-Duell mit Kovac.
Das fehlende Eingreifen von Kovac, ließ mal wieder die zahlreichen Kovac-Zweifler unter den Bayern-Fans laut werden. Von "Ausgecoacht" war die Rede. "Wer da heute nicht den Klassenunterschied zwischen Kovac und Nagelsmann sieht, kann sich offiziell Kovacfanboy nennen", schrieb Twitter-User "@D_J_Sunray". Ein anderer Fan schrieb nur: "Kovac könnte sich bei Nagelsmann mal abschauen, wie taktische Umstellungen funktionieren."
Doch es gab auch Fürsprecher für den Bayern-Trainer. Fredi Bobic, Sportvorstand des ehemaligen Kovac-Klubs Eintracht Frankfurt, kann die ständige Kritik an Kovac nicht verstehen. "Wir sind hier nicht in der Kreisliga", erklärte Bobic im "Sport1 Doppelpass". "Der Trainer hat sicherlich versucht, in das Spiel einzugreifen. Und mit der Einwechslung von Tolisso ist neuer Schwung hereingekommen und das Spiel hat sich wieder gedreht."
Seit Kovac in München ist, zweifeln immer wieder Fans an seinen taktischen Fähigkeiten. Da half auch nicht der Gewinn des Doubles in der vergangenen Saison. Schwierig für Kovac: Besonders die Vergleiche zum Taktik-Professor und Vorgänger Pep Guardiola lassen ihn schlecht aussehen. Dass Kovac passiver als der versessene Taktiker Guardiola ist, erklärte der bayerische Mittelfeld-Dirigent Thiago zuletzt: "Pep arbeitet viel mit Videos und erklärt dir beispielsweise genau, wo bespielbare Räume sind und warum du gewisse Dinge tun sollst. Niko ist da anders, er gibt dir mehr Freiheiten. Er will, dass du in den Spielen deine eigenen Entscheidungen triffst", sagte der 28-Jährige im Gespräch mit "Spox". In von Taktik geprägten Spielen wie gegen Leipzig sehen sich die Kritiker bestätigt.
Und ausgerechnet diese Kritiker im Bayern-Lager trauern oftmals, dass der FC Bayern sich nicht Trainer-Talent Nagelsmann geangelt hat. Ein Fan adelte den Leipzig-Coach schon nach dem Spiel gegen den Rekordmeister: "Nagelsmann einfach auch bester Trainer der Liga." Präsident Uli Hoeneß soll sich vor Jahren bereits um den gebürtigen Bayer als Jugendtrainer bemüht haben. Bevor Kovac kam, galt der junge Trainer dann als Kandidat für die Profis – doch die Bayern entschieden sich gegen den bis dato noch unerfahrenen Coach der TSG Hoffenheim. Nun zeigte Nagelsmann den Bayern-Bossen bei seinem neuen Arbeitgeber in Leipzig, welche Fähigkeiten er hat.
Doch auch Nagelsmann kam trotz seines taktischen Kniffs nicht ganz so gut weg. Einige Fans wunderten sich, dass der Leipziger Trainer erst so spät reagierte und somit ziemlich glücklich mit einem Unentschieden in die Halbzeit ging. "Erstaunlich, dass Nagelsmann auf diese erste Halbzeit nicht noch innerhalb des Spiels reagiert hat", schrieb etwa der Fußball-Experte Max-Jacob Ost vom "Rasenfunk"-Podcast auf Twitter: "Ziemliches Glück, mit 1:1 in die Halbzeit zu gehen."
Der Plan von Nagelsmann ging dennoch auf, und RB führt die Bundesliga-Tabelle an – zum Leidwesen des FC Bayern. Und Niko Kovac steht abermals in der Kritik. Doch der gebürtige Berliner hat in den vergangenen Jahren stets mit Erfolgen seine Kritiker verstummen lassen. Das wird er auch in dieser Saison versuchen.
(bn)