"Er ist wieder da". Mehr war nicht nötig, um die Rückkehr von Claudio Pizarro nach Bremen auf dem Twitter-Account des Vereins zu verkünden.
Zum fünften Mal unterschrieb also Claudio Miguel Pizarro Bosio einen Vertrag als Fußballer bei Werder Bremen. Das Detail an diesem Satz, das viele Fan mit offenen Kinnladen hinterlässt, ist, dass Pizarro in der Saison 2018/2019 in der Bundesliga als aktiver Fußballer gegen den Ball treten will – schließlich wird der Mann am 3. Oktober 40 Jahre alt.
Wo bei anderen Männern die Midlife Crisis ihren Startschuss gibt, quälte sich Pizarro im Sommer mit Individualtraining zum Fitnessstand eines Mitt-Zwanzigers. Er selbst sieht sich "eher bei 60 als bei 100 Prozent", doch bei allem Understatement sagt Pizarro auch, er sei gekommen, um Tore zu schießen.
Seinen Torriecher, seine Schlitzohrigkeit, sein Positionsspiel – all das wird der Peruaner wohl kaum zu seinem 39. Geburtstag wie einen verbrauchten Mantel in der Altkleidersammlung entsorgt haben. Einen Mann, der 446 Bundesliga-Partien gemacht hat, dabei 192 Tore geschossen und 74 weitere vorbereitet hat, sollte man niemals unterschätzen.
Pizarro wollte seine lange, entbehrungsreiche Karriere schlichtweg nicht als Kölner Absteiger beenden. "Pizza", wie ihn seine Fans seit seiner Ankunft 1999 aus Peru nennen, will erhobenen Hauptes in den Fußballer-Ruhestand gehen. Viele Beobachter trauen ihm das allein aufgrund seines Alters nicht zu. Doch warum eigentlich?
Bundesliga-Klubs bemühen sich seit Jahren um immer noch jüngere Talente. Als Pizarro 1999 in die Bundesliga wechselte, lag das Durchschnittsalter eines Bundesliga-Spielers bei 27,8 Jahren, in der letzten Saison lag es bei 23,5 Jahren. (Welt/Statista) Das beste Fußballalter habe sich von 29 auf 25 verschoben, sagte Ex-Nationalspieler Andreas Hinkel schon 2012, als er sein Karriereende bekannt gab. (11Freunde)
Dass das Alter längst nur noch eine Zahl im Profisport ist, hat nicht zuletzt Naldo bewiesen: Der Schalker Abwehrturm wird im September 36 und durfte sich bereits Wochen zuvor über reichlich Blumen freuen: Unter anderem wählten ihn das Fußballmagazin "11 Freunde" und das Online-Portal "Transfermarkt" zum besten Spieler der vergangenen Bundesliga-Saison. Naldo lebte auf Schalke Professionalität und Freude am Beruf wie kein anderer Profi vor und war damit nicht nur Stabilisator des königsblauen Spiels, sondern auch des sozialen Geflechts um Jungcoach Domenico Tedesco.
Genau diese Rolle wird sich auch vom vier Jahre älteren Claudio Pizarro in Bremen erhofft. Zwar ist allen Beteiligten klar, dass der Mittelstürmer kein Kandidat für einen Stammplatz ist, wie es Naldo mit seinem Wechsel aus Wolfsburg nach Gelsenkirchen war, doch eine sportliche Notwendigkeit für einen Typ wie Pizarro ist an der Weser deutlich zu erkennen.
Zwar haben sie bei Werder eine extrem breite Offensive, doch den Spielstil des Raumbesetzers Pizarro beherrschen weder ein Yuya Osako noch ein Fin Bartels. Martin Harnik und Max Kruse könnten ein solches körperliches Sturmduo formen, doch über dem Osterdeich kreist die Gefahr einer Verletzung eines der beiden nominellen Mittelstürmer. Die könnte die Bremer bereits in arge Bedrängnis bringen. Mit Aron Jóhansson fällt die Alternative Nummer 1 aufgrund einer Sprungelenksverletzung auf unbestimmte Zeit aus, die beiden hauseigenen Talente Johannes Eggestein und Josh Sargent sind noch im Heranführungsprozess.
Claudio Pizarro ist in dieser Situation in der Rolle als alter, weiser Sturmveteran Gold wert. Er lebt dem kompletten Kader die Liebe und Professionalität zum Sport vor – sonst wäre er schließlich nicht mit 40 noch Bundesliga-Profi. Und er kann aus seiner drei Dekaden umspannenden Erfahrung als Abwehrschreck berichten. Was solche Leitfiguren für die Entwicklung junger Profis leisten können, weiß nicht zuletzt auch Bremens Manager Frank Baumann, der die hohe Kunst der Verteidigung an der Seite des damals 36-jährigen Ex-Dortmunders Julio Cesar erlernte. "Von solchen Spielern kann man sich viele Dinge abschauen. Fußballerisch, aber auch neben dem Platz, was Einstellung und Ausstrahlung betrifft", sagt Baumann – und spricht dabei auch von Pizarro. ("Deichstube")
Bei all diesen Überlegungen darf man Pizarro, der einen leistungsabhängigen Vertrag mit niedrigem sechsstelligen Grundgehalt unterschrieb, jedoch nicht als teuer bezahltes Maskottchen verlachen. Cristiano Ronaldos 100-Millionen-Euro-Transfer zu Juventus Turin war auch mehr als ein Marketing-Coup. Kazuyoshi Miura tritt nicht aufgrund fehlender finanzieller Rücklagen mit 51 Jahren in der zweiten japanischen Liga gegen den Ball. Ebenso dürfte Sir Stanley Matthews nicht erst mit 50 Jahren seine Fußballstiefel bei Stoke City an den Nagel gehangen haben, weil er sonst nichts besseres mit seiner Zeit anzufangen wusste.
Diese Typen wurden und werden vom Erfolgsdurst und einem Drang nach tiefer innerer Befriedigung im Leistungssport am Laufen gehalten – und zu ihnen gehört auch der Ausnahmeathlet Claudio Pizarro. Er weiß um seine Ausnahmestellung und seine Strahlkraft für junge Kicker, die mit oftmals gerade einmal 17 Jahren ins Haifischbecken Profifußball geworfen werden. Ein Kevin Großkreutz etwa, mit all seinen Eskapaden, ist nicht ohne Grund als Weltmeister in die Drittklassigkeit abgerutscht: Ihm fehlte es offenbar schlichtweg am hochprofessionellen Lebensstil, den einen Pizarro und CR7 eint.
Pizarros Verpflichtung ist trotz aller Vorzeichen eine perspektivische: Werder versucht eine Vereinslegende kurz vorm aktiven Karriereende an sich zu binden. Dass es noch während Pizarros Abschiedssaison Gespräche über seine Zukunft geben dürfte, liegt auf der Hand. In einer Zeit des "Hire And Fire", der hyperinflationären Transfers, der belanglosen Wappenküsser, gehen Pizarro und Werder eine Symbiose ein, die tiefer dringt als jeder Vertrag.
Während Bayern München Ex-Spieler Niko Kovac, der nicht einmal 40 Bundesliga-Einsätze für den FCB zu verzeichnen hat, mit hochtrabenden Worten zur Vereinslegende erhöht, um bei Fans den Eindruck der Vereinsverbundenheit zu erschaffen, leben "Pizza" und Werder diese Nachhaltigkeit. Der Verein ermöglicht einem verdienten Spieler den gewünschten Abschied und der Spieler tritt für den Verein, dem man alles verdankt, ins zweite Glied zurück: Das sollte selbstverständlich sein im Fußball – und daran werden uns Pizarro und Werder die komplette Saison erinnern.