Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Stadion, den Wolfsgruß im Hinterkopf und Hunderttausende frenetische Fans im Stadion, auf den Fanmeilen, in den Bars sowie Spätis im Blick. Wenn die Türkei und die Niederlande am Samstagabend in Berlin um den Einzug ins EM-Halbfinale kämpfen, ist die Berliner Polizei im Ausnahmezustand.
Im Gespräch mit watson erklärt Benjamin Jendro, Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP), wie die Behörde mit dieser speziellen Situation umgeht.
watson: Herr Jendro, wie ist die Stimmung bei den Berliner Polizist:innen nach fast drei Wochen EM?
Benjamin Jendro: Wir merken in den täglichen Gesprächen, dass die Einsatzlagen schon an die Substanz gehen, was angesichts von 60-Stunden-Wochen und vielen kurzfristigen Alarmierungen kaum verwundern kann. Die Kolleg:innen sind natürlich weiterhin hoch motiviert, um auch die letzte EM-Woche hochprofessionell über die Bühne zu bringen und die Menschen in unserer Stadt vor Kriminalität zu schützen. Dafür sind wir sehr dankbar, sie haben unseren größten Respekt und volle Wertschätzung.
Wie blickt die Berliner Polizei auf das EM-Viertelfinale zwischen der Türkei und den Niederlanden am Samstag im Olympiastadion?
Beide Teams haben sich sportlich für das Viertelfinale qualifiziert und sich dieses Spiel demnach verdient. Dass diese Partie besondere polizeiliche Herausforderungen mit sich bringt, sollte jedem klar sein. Wir haben aktuell zig Tausende niederländische Fußballfans in Deutschland und Hunderttausende, die mit der türkischen Nationalmannschaft sympathisieren.
Gerade in Berlin ist die türkische Community besonders groß.
Dadurch, dass dieses Viertelfinale in Berlin stattfindet, verstärken sich beim Blick auf die große türkische Community in unserer Stadt die Sorgen bei der Einsatzbewältigung nochmal zusätzlich. Emotionen spielen rund um den Fußball immer eine große Rolle und wir haben in den letzten Wochen deutlich gesehen, wie Erfolge gefeiert und Frust über Misserfolge Raum verschafft wird. Es gibt sicher politisch brisantere Spielpaarungen. Aber bei dem, was noch im Turnier ist, ist die Partie das Nonplusultra-Hochrisikospiel.
Wie viele Polizist:innen werden am 6. Juli in Berlin im Einsatz sein?
Die genauen Zahlen werden aus einsatztaktischer Sicht nicht preisgegeben, aber Polizeiführer Katte hat vor der EM bereits ungefähre Zahlen benannt. Bei einem EM-Viertelfinale Niederlande gegen Türkei in Berlin reden wir über die Hausmarke von gut 3000 Einsatzkräften. Es wird alles in den Dienst alarmiert, was irgendwie möglich ist, und wir hoffen natürlich auf Unterstützung von Bund und Ländern.
Wo werden besonders viele Beamt:innen im Einsatz sein?
Anders als bei anderen Spielen reden wir eben nicht nur über die vier Hotspots Olympiastadion, Fanmeile, Fantreffs am Breitscheidplatz und Hammerskjöldplatz, sondern eben auch über den Ku’damm, Neukölln, Kreuzberg, wo Fußballfans auf die Straße gehen oder eben fahren werden.
Außerdem hat der türkische Präsident Erdoğan angekündigt, das Spiel zu besuchen. Ändert das etwas an der Herangehensweise?
Der Besuch hat an sich keine große Auswirkung auf die Kräfteplanung, da wir ohnehin alles in den Dienst holen, was laufen kann. Es ist ehrlicherweise auch legitim, dass sich ein Staatsoberhaupt bei sportlichem Erfolg seiner Nationalmannschaft spontan dazu entschließt, seine Wertschätzung für die Leistung mit eigener Präsenz zu zeigen. Wir erwarten natürlich, dass er sich während dieses Besuches an den rechtsstaatlichen Rahmen des Gastgeberlandes hält und bei uns gilt der Wolfsgruß als rechtsextremes Symbol.
Erwartet die Berliner Polizei einen Ausnahmezustand?
Ausnahmezustand muss nicht per se schlecht sein. Wir würden uns freuen, wenn wir am 14. Juli in Berlin Ausnahmezustand haben, weil fast vier Millionen Einwohner feiern, wenn unser Kapitän İlkay Gündoğan den EM-Pokal in die Höhe reckt.
Und konkret beim Spiel am Samstag?
Natürlich wird es auch Trubel geben, sollte sich die türkische Mannschaft gegen die Niederlande durchsetzen. Aufgabe der Polizei ist es, dafür zu sorgen, dass alles Menschenmögliche getan wird, um die Sicherheit zu wahren und kriminelle Handlungen zu verhindern. Im Olympiastadion werden die beiden Teams hoffentlich guten Fußball zeigen, sodass auch die Zuschauer ein Fußballfest feiern können.
Wie beurteilen Sie die Lage auf der Berliner Fanmeile?
Bei der Fanmeile und anderen Orten hängt vieles vom Spielverlauf, aber eben auch von ganz anderen Komponenten wie dem Wetter ab. Wir wissen, dass beide Fangruppen dazu in der Lage sind, sehr laut zu feiern, wenn ihr Team sich durchsetzt. Ob das im negativen Fall in Gewalt oder andere Straftaten überschlägt, wissen wir, wenn es so weit ist. Unsere Kolleg:innen werden in jedem Fall wachsam sein und ihr Bestes geben, damit der Sport im Vordergrund steht.
Mit wie vielen Fans rechnet die Berliner Polizei?
Das Olympiastadion sollte ausverkauft sein, also schon mal gute 75.000. Die Fanmeile wurde mittlerweile auf 70.000 Zuschauer erhöht. Jeder, der mal einen Fuß nach Berlin gesetzt hat, weiß, dass es aber nicht darauf zu reduzieren ist. Die Fantreffs werden voll sein, überall in der Stadt werden bei Public-Viewing-Möglichkeiten viele Menschen zusammenkommen. Ich denke, ich bin kein Prophet, wenn ich sage, dass Herrmannstraße und Sonnenallee voll sein werden, und sicher wird es auch Autokorsos geben.
Kann die Polizei beispielsweise gegen Autokorsos vorgehen?
Sie lassen sich aus polizeilicher Sicht schwer verhindern und hast Du erstmal viele Fahrzeuge, die sich hintereinander langsam durch die Stadt bewegen, wird es die wichtigste Aufgabe sein, den Abstrom der einzelnen Fahrzeuge möglichst geordnet ablaufen zu lassen sowie die eine oder andere Ordnungswidrigkeitenanzeige zu schreiben. Wir appellieren in jedem Fall an alle, sich an die Regeln unseres Rechtsstaates zu halten, weder sich noch andere in Gefahr zu bringen. Dann haben wir keine Probleme und alle können ein Fußballfest feiern.
Wie bereitet die Berliner Polizei sich auf das Match vor?
In jedem Fall hochprofessionell und gespickt mit Erfahrungen, die aus unzähligen vergleichbaren Großeinsätzen gemacht wurden. Wenn man sich den bisherigen EM-Verlauf ansieht, erkennt man, dass die Hauptstadtpolizei sehr gut vorbereitet in die Einsätze gegangen ist, stets passende Antworten auf sich entwickelnde Lagen gefunden hat und die Sicherheit zu keinem Zeitpunkt gefährdet war.
Vor dem Turnier wurde vor einem Hooligan-Problem gewarnt.
Natürlich gab es weiterhin Kriminalität in dieser Stadt, aber wenn wir uns jene im direkten EM-Kontext anschauen – Gewaltaktionen durch Hooligans beispielsweise – hat man das schon sehr gut eindämmen können. Große kritische Töne an der Polizei haben wir anders als an der Organisation oder dem ÖPNV jedenfalls bisher jedenfalls nicht gehört.
Gibt es abseits der Fußballveranstaltungen aktuell weniger Einsätze?
Die Welt hat keinesfalls den Atem angehalten, weil irgendwo das runde Leder rollt – schon gar nicht in der Hauptstadt. Wir haben nach wie vor viele weitere Aufgaben wie Alltagskriminalität oder ein extremes Versammlungsgeschehen im Nahost-Kontext zu bewältigen.