Auch fast 20 Jahre nach seinem letzten Spiel für Dortmund trägt Jörg Heinrich die Borussia tief im Herzen. "Einmal Borusse, immer Borusse", sagt er während des Gesprächs mit watson. Und so spricht der Markenbotschafter des Klubs immer wieder von "wir", wenn es um "seinen" BVB geht.
Der heute 53-Jährige absolvierte nicht nur 144 Spiele für die Westfalen, sondern war ab Dezember 2017 bis Sommer 2018 auch Co-Trainer unter Chefcoach Peter Stöger.
Und so weiß er auch, wie es ist, in München zu spielen. Beim Auswärtsspiel in der Saison 2017/18 gab es jedoch eine heftige 0:6-Klatsche.
Jetzt sind die Vorzeichen anders. Borussia Dortmund ist beim Gastspiel in München zum ersten Mal seit über zehn Jahren Tabellenführer.
Watson: Herr Heinrich, fährt Borussia Dortmund am Samstag als Favorit nach München?
Jörg Heinrich: Als Favorit fahren wir sicher nicht nach München. Wenn man sich anguckt, wer in den vergangenen Jahren Meister wurde und bis vor zwei Wochen Tabellenführer war, dann sind wir froh, dass wir die Chance haben, als Erster nach München zu fahren.
Der BVB ist seit zehn Bundesliga-Spielen ungeschlagen. Beim FC Bayern gab es den Trubel rund um die Entlassung von Julian Nagelsmann. War die Ausgangslage jemals besser?
Es gibt nicht umsonst das Sprichwort des angeschlagenen Boxers. Mit Bayern ist immer zu rechnen, egal wie die Ausgangslage ist.
Kann das Spiel eine Vorentscheidung im Titelkampf sein?
Nein, gar nicht. Es geht am Ende auch nur um drei Punkte und nicht um sechs und die Meisterschaft wird nicht entschieden – egal, wie das Spiel ausgeht. Der BVB hat in den letzten Wochen viele Punkte gegen die kleineren Teams gesammelt, wo wir sonst oft gestrauchelt sind. Die Bayern haben da Punkte liegen lassen.
In den entscheidenden Spielen wie gegen PSG hat der FC Bayern in dieser Saison jedoch Top-Leistungen gezeigt. Der BVB schied in der Champions League gegen Chelsea aus und kam im Revierderby gegen Schalke auch nicht über ein 2:2 hinaus.
Wenn man es halbwegs neutral betrachtet, ist Chelsea zu Recht weitergekommen. Beim Spiel gegen unseren Nachbarn war viel Pech dabei. Es war ein Top-Spiel von uns, mit vielen Chancen, nur das Ergebnis war nicht so toll.
Die Defensive des FC Bayern ist in dieser Saison immer wieder anfällig. Da sollten die Torchancen genutzt werden.
Definitiv. Ich hoffe, dass wir in diesem aktuellen Flow bleiben und die Bayern ärgern können. Es wäre für die Bundesliga eine tolle Sache, wenn der Meisterkampf spannend bleibt und wir als BVB der Hauptkonkurrent sind.
Die vergangenen Partien in München endeten jedoch 3:1, 4:2, 3:2, 4:0, 5:0, 6:0 für den FC Bayern. Warum kommt der BVB diesmal nicht unter die Räder?
(lacht) Man hat immer die Hoffnung, dass der Zeitpunkt für einen Sieg gekommen ist. Es gibt schlechtere Zeitpunkte, um nach München zu fahren als jetzt. Meiner Meinung nach hat Bayern immer noch den besten Kader der Bundesliga und über 34 Spiele müssten sie ganz oben stehen. Wir versuchen einfach, es so lange wie möglich offenzuhalten.
Danach sah es lange nicht aus. Zum Winter hatte der BVB schon neun Punkte Rückstand. Niklas Süle sagte aber bereits damals, dass man die Saisonziele nicht abschreiben solle. Tut dem BVB so ein gesundes Selbstbewusstsein vielleicht auch mal gut?
Wenn man die Chance hat, oben mitzuspielen, will man auch Meister werden. In der Kabine wird das Thema schon angesprochen, sonst brauche ich auch gar nicht auf den Platz zu gehen. Wie offensiv man das nach außen trägt, ist dann die andere Sache.
Auch Trainer Edin Terzić sagte bereits vergangenen September, dass der BVB Meister werde, er wisse nur noch nicht wann.
Wenn wir nur auf unsere Vorrunde schauen: Mit sechs Niederlagen haben wir über alles geredet, aber nicht über eine Meisterschaft. Das ist mit der Anzahl an verlorenen Spielen unrealistisch. Jetzt haben wir einen gewissen Lauf, aber das Titelrennen ist noch nicht entschieden.
Und dennoch steht der BVB jetzt an der Tabellenspitze. Was ist unter Terzić der größte Unterschied im Vergleich zu den vergangenen Jahren?
Ich habe das Gefühl, dass er es geschafft hat, die Priorität der Jungs zu verändern: Es zählt nicht mehr nur gut zu spielen und ein bisschen zu kämpfen. Er hat ihnen zu verstehen gegeben, was Borussia Dortmund ausmacht.
Und was macht Borussia Dortmund aus?
Ärmel hoch und erstmal alles für den Sieg zu tun, dann setzt sich die Qualität durch. Und das machen die Jungs wesentlich besser als vor einiger Zeit. Man spürt wieder mehr Herz.
Wie wichtig ist in dieser Hinsicht Jude Bellingham?
Da marschiert Bellingham mit seinen jungen Jahren absolut voran. Diese Mentalität brauchen wir bei Borussia. Ich habe erst kürzlich von Schlotterbeck gelesen, dass er gesagt hat, die Fans wollen sehen, dass man sich für den Verein reinhaut, dann verzeihen sie auch Fehler. Genau so muss man Fußball spielen.
Der BVB hatte aber auch vor Terzić und Bellingham Top-Trainer und Spieler.
Ja. Vielleicht hat das aber auch mit dem ein oder anderen Spieler zusammengehangen, der das nicht umsetzen konnte. In letzter Zeit sind viele Spieler gekommen und gegangen, da braucht es Zeit, bis man das gedreht bekommt.
Der FC Bayern wollte mit Julian Nagelsmann eine Ära prägen und ist gescheitert. Kann es Dortmund hingegen mit Terzić schaffen?
Das würde ich mir für ihn schon wünschen. Ich kenne ihn persönlich auch noch sehr gut, daher kann er von mir aus sehr lange bleiben.
Statt gegen Nagelsmann geht es nun gegen Ex-Trainer Thomas Tuchel. Interessiert das einen als Spieler?
Ich denke, den Spielern ist das fast egal. Am Ende geht man auf den Platz und versucht, das beste Ergebnis herauszuholen. Welchen Einfluss Thomas Tuchel als neuer Trainer nehmen kann, bin ich auch gespannt.