Mesut Özil, das war jahrelang Fußballkunst auf allerhöchstem Niveau. Der kreative Mittelfeldspieler verkörperte eine Art des Fußballs, die es so in Deutschland davor nicht gab. Ein Spiel, das von allerhöchster Kreativität geprägt war, immer mit dem Auge für den Mitspieler. Bei der WM 2010 eroberte er die Fußball-Welt im Sturm, beim WM-Titel 2014 war er ein wichtiges Puzzleteil für die Elf von Jogi Löw.
Doch dann änderte sich schlagartig alles. Ein Foto mit dem türkischen Machthaber Erdoğan, eine verpatzte WM, Rassismusvorwürfe, Rücktritt vom DFB-Team und die komplette Abkehr von Deutschland. Das neueste Kapitel kam diesen Sommer hinzu: Auf Özils Brust prangert ein Tattoo der rechtsextremen Grauen Wölfe.
Khesrau Behroz geht mit seinem neuen Podcast "SchwarzRotGold: Mesut Özil zu Gast bei Freunden" der Entwicklung des 92-fachen deutschen Nationalspielers nach. Im Gespräch mit watson berichtet er über die Entstehung und das große Missverständnis um Mesut Özil.
watson: Khesrau, was wäre deine erste Frage an Mesut Özil, wenn du ihn treffen könntest?
Khesrau Behroz: Lass mich kurz überlegen. Ich würde ihn fragen, wie es war, Deutschland zu verlassen. Mit den Vorwürfen in Richtung DFB rund um seinen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft hat er auch eine Rückkehr nach Deutschland ausgeschlossen. Er ist ein Mann, der immer auf zwei Stühlen saß, aber von beiden verdrängt wurde.
Karim Khattab, Autor des Podcasts, fragt zu Beginn der ersten Folge zur Causa Özil vorwurfsvoll: "Was fällt dir ein, Deutschland?" Kannst du diese Frage verstehen?
Ich kann absolut verstehen, warum das jemanden wie Karim oder auch mich antreibt. Und ich kann verstehen, dass viele, die das aus der migrantischen Perspektive betrachtet haben, sich damals und heute noch immer fragen: Was zum Teufel ist da passiert?
Und warum treibt es euch an?
Wir haben in Deutschland nie nochmal geschaut, was eigentlich vorgefallen ist. Die Debatte ist streckenweise ziemlich eskaliert, das Ausmaß war maßlos, viele haben in dem Fall eine gute Möglichkeit gesehen, sich ideologisch zu entladen – und sich an Mesut Özil mehr oder weniger abzureagieren.
In den acht Folgen sprecht ihr mit seinem Vater, seinem Lehrer, Vertrauten, ehemaligen Bekannten, aktuellen und ehemaligen Entscheidungsträgern beim DFB und in seinen Klubs: Wie haben sie die Geschichte um Özil reflektiert?
Leute in offiziellen Positionen haben immer Schwierigkeiten, auch Jahre später zurückzutreten. Viele sagen immer noch, dass sie heute auch so reagieren würden. Viele haben rückblickend aber auch gesagt, dass diese Situation neu war und sie nicht wussten, was sie machen sollten. Ich glaube, es gibt auch viele, die sich in ihrem Bild über Özil bestätigt gesehen haben.
Inwiefern?
Vor allem durch sein Verhalten in den Jahren danach, samt weiteren Fotos mit Erdogan – auch auf seiner Hochzeit. Im Sommer offenbarte er dann noch das Graue-Wölfe-Tattoo auf seiner Brust. Aber da müssen wir vorsichtig sein und dürfen die Dinge nicht zusammenbringen.
Wieso?
Der zurückgewiesene Özil ist natürlich ein anderer als der, der in Deutschland der Weltklasse-Fußballer war und 2014 den WM-Titel gewonnen hat.
Wäre es zu verhindern gewesen, dass er sich von Deutschland abwendet?
Das denke ich schon. Aber dafür war die Debatte eigentlich schon zu emotional. Und Özils Krisenmanagement, das muss man auch klar sagen, nicht gut genug. Deutschland und Mesut Özil – sie verhielten sich irgendwie asynchron zueinander. Wer so aneinander vorbei fühlt, kommt nicht zusammen.
İlkay Gündoğan war gemeinsam mit ihm auf dem ersten Erdogan-Foto. Was lief da anders?
Genau. Er ist aber ganz anders damit umgegangen und hat sich sehr schnell entschuldigt und distanziert. Jetzt ist Gündoğan Kapitän der deutschen Nationalmannschaft. Diese 180-Grad-Wendung musst du auch erstmal hinbekommen.
Waren sofort alle bereit, über Özil und seine Entwicklung zu sprechen?
Es war tatsächlich nicht so einfach, Leute davon zu überzeugen, darüber zu sprechen. Uns war vor allem wichtig, dass es nicht darum geht, das große Urteil zu fällen. Das steht uns auch gar nicht zu. Wir konnten den Leuten aber die Möglichkeit bieten, die Geschichte aus ihrer Perspektive zu erzählen.
Wie zum Beispiel seinem ehemaligen Lehrer Christian Krabbe, der immer noch in höchsten Tönen von ihm schwärmt.
Er kennt ihn, seit er ein Kind ist, und hat seinen Aufstieg in die Elite des Fußballs miterlebt. Zudem kennt er die Familie gut und kann sich so natürlich ein Urteil erlauben. Seine Ex-Trainer werden eine andere Meinung haben und die Presse vermutlich auch. Das kommt ganz darauf an, mit wem du sprichst.
Hatte Mesut Özil kein Interesse, seine Perspektive zu erzählen?
Wir haben ihn mehrfach angefragt, darauf hat er aber nicht reagiert. Insgesamt hoffe ich einfach, dass wir im Kontext der ganzen Geschichte lernen, was den Umgang miteinander betrifft.
Was würdest du als größtes Learning für dich mitnehmen?
Dass es immer leicht ist, sich an einer Schlagzeile aufzuhängen. Özil macht ein Foto mit Erdogan: Das war in dieser Zeit ein einfacher Aufreger. Aber wenn wir uns mit der Person Özil auseinandersetzen, bekommt das einen anderen Anstrich. Aber diese Zeit nehmen wir uns nicht, stattdessen müssen wir zu allem sofort eine Haltung entwickeln. Das ist nicht immer gut.
Özil ist vermutlich das prominenteste Beispiel, aber ähnlich gelagerte Fälle mit dem Kampf um die eigene Herkunft gibt es täglich hunderttausendfach in Deutschland.
Absolut. Ich glaube, viele migrantische Jugendliche und Leute, denen wir einen Migrationshintergrund zuschreiben, haben diese Geschichte genau beobachtet. Sie haben dadurch gesehen: Wenn das einem so erfolgreichen und mächtigen Mann wie Mesut Özil passieren kann, dann kann es mir auch passieren.
Obwohl ihm 2010 der erste Bambi für Integration verliehen wurde …
Integration ist immer etwas, das einem zugeschrieben wird. Aber genauso schnell wieder genommen werden kann. Hinter der Geschichte von Mesut Özil steckt einfach auch die bundesdeutsche Geschichte der vergangenen zehn, 20 Jahre. Es geht um Fragen wie: Was hat das mit Migration auf sich? Wie führen wir diese Debatten?
Die Migrationsdebatte erleben wir aktuell wieder. Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte an, rigoroser abschieben zu wollen.
Es ist gerade das Thema der Stunde, daher ist der Podcast auch sehr zeitgemäß. Aktuell gibt es vorschnelle Lösungsangebote, die keine sind, aber das populistische Profil schärfen. Daher hilft es, sich in aller Ruhe die Geschichte von Mesut Özil anzuhören.