Man muss den Film "Moneyball" nicht kennen, um im Team von Sebastian Lange zu arbeiten. Das verneint er im Videocall mit watson mit einem Lachen. Aber der Film gefällt ihm persönlich. Und er hilft, um seine Herangehensweise auf dem Fußballmarkt zu verstehen.
Im 2011 erschienen Film geht es um die Oakland A's, ein mittelmäßiges Baseballteam, dessen Topspieler reihenweise zur zahlungskräftigen Konkurrenz abwandern. Aufgrund des knappen Budgets setzt Manager Billy Beane (Brad Pitt) auf ein datenbasiertes Konzept. Gemeinsam mit seinem Assistenten, dem Yale-Absolventen Peter Brand (Jonah Hill), achten sie auf statistische Analysen, die Spieler unabhängig von traditionellen Kriterien bewerten.
Vom Prinzip machte Sebastian Lange beim SC Verl nichts anderes. In der abgelaufenen Drittligasaison stellte der Klub aus Ostwestfalen mit 57 Zählern seinen persönlichen Punkterekord in der 3. Liga auf – und das mit einem der kleinsten Etats. Der SC Verl beendete die Saison auf Rang sieben.
Die Vorgaben sind klar und auf den ersten Blick ungewöhnlich: junge Spieler, die Verl als Durchgangsstation nach oben sehen. Lediglich ein Vertrag läuft länger als bis Sommer 2026. Für Lange ist das Teil der Philosophie.
"Wir wollen eine Atmosphäre in der Gruppe schaffen, dass die Mannschaft immer gierig bleibt. Deswegen ist es für uns wichtig, diese Fluktuation zu haben. Immer wieder neue Trainer, Spieler und Mitarbeiter, für die es sich nach etwas Neuem anfühlt, die weiter nach oben wollen. Das kann dich als Klub tragen", sagt er. Dass der Klub weiterhin in der 3. Liga spielt, sei für den Verein ein "absolutes Highlight" und "eine riesige Bühne".
Aber wie läuft das nun genau in Verl ab?
Als Sebastian Lange vor sechs Jahren seine Torwartkarriere in Verl beendete, spielte der Verein Regionalliga West. Auf seiner Position als sportlicher Leiter gab es nicht viel. "Der Verein hatte ein Präsidium und einen Cheftrainer, ansonsten gab es keine sportliche Kompetenz", schildert er. "Wir waren in der ersten Mannschaft auf uns allein gestellt und konnten uns verwirklichen."
Das System, auf dem die Arbeit des SC Verl immer noch beruht, erstelle Lange selbst. Anhand seiner Kenntnisse auf dem Finanzmarkt und bereits entwickelten Algorithmen programmierte er vor rund sechs Jahren ein Scouting-Tool passend auf den Fußball, den er in Verl sehen wollte.
Denn Daten wie Zweikampf- oder Passwerte gibt es im Fußball schon seit vielen Jahren. "Was es aber noch nicht gab, waren gewisse Indexe aus Daten und Algorithmen, aus denen diese erstellt werden können." Es ging vor allem darum zu erfassen, welche Werte für gewisse Positionen relevant sind.
Und von diesem Zeitpunkt an war es viel Trial-and-Error. "Das war für mich schon so etwas wie der heilige Gral. Ich musste dann natürlich noch einen Schritt weitergehen, um zu gucken, wie ich die Spieler vergleichen kann, damit ich den für unseren Fußball am besten passenden aus den Daten herausfinde."
Enttäuscht wurde er bisher noch nie. "Es ist etwas, worüber ich immer wieder nachdenke. Dann komme ich zu dem Entschluss, dass ich mich manchmal sogar noch mehr auf die Daten verlassen sollte."
Doch Lange und sein Team spielen nicht den ganzen Tag Fußball Manager im echten Leben am Computer. Die Daten und passende KI helfen, "um Dinge im Alltag zu vereinfachen." Der Inhalt aber kommt von ihnen.
"Mittlerweile werden die passenden Spieler dank automatisierter Rankings angezeigt", hebt er die Weiterentwicklung hervor. Aber ein striktes Vorgehen gibt es nicht, denn es kann auch sein, dass "Hinweise von links und rechts" kommen, und die Spieler dann mit den Daten abgeglichen werden.
Seit einer Saison gibt es im Klub einen Chefscout und "zwei, drei ehrenamtliche Helfer", die sich Spiele anschauen. Ein kleines Team hat für Lange Vorteile, "denn dadurch kann man den Prozess besser steuern".
Die Filtervorgaben für den Zielmarkt Deutschland sind eindeutig: "Wenn wir eine Gruppe zusammenbringen, ist klar, was für Menschen wir wollen und dass in der Kabine Deutsch gesprochen wird." Mittlerweile gibt es ein klubeigenes Dashboard, an dem Lange händisch gearbeitet hat, um diesen Prozess zu automatisieren. "Dadurch sind wir schneller, effizienter und können einen noch tieferen Einblick in die Daten bekommen."
Diesen Blick bekommen auch potenzielle Neuzugänge. Aber können die Spieler mit so viel Input überhaupt umgehen? "In den meisten Fällen ist ihnen gar nicht bewusst, auf welchem Level sie sich aus diesem Blickwinkel überhaupt befinden", gesteht Lange.
Dazu werden ihnen Szenen auf ihrer Position und dem Fußball in Verl gezeigt. Hinzu kommen Spieldaten aus allen Drittligasaisons und "dann sieht man einen roten Faden, der es für die Jungs greifbarer macht". Es wird zudem eine Prognose anhand der Vorgänger auf ihrer Position erstellt. Das gilt nicht nur für Spieler, sondern auch Trainer.
Spieler und Trainer Alexander Ende füllten Langes Vision vom Fußball in der vergangenen Spielzeit eindrucksvoll mit Leben. Dass der Punkterekord nicht nur Glück ist, sondern der SC Verl wirklich mit Offensivfußball begeisterte, zeigen die Statistiken. Sie hatte den meisten Ballbesitz (58 Prozent), die beste Passquote (86 Prozent) und ließ die wenigsten gegnerischen Torschüsse zu (372), teilte der DFB mit.
Zudem hatten die Ostwestfalen mit Berkan Taz (13 Tore, 16 Vorlagen) den absoluten Topscorer der Liga in ihren Reihen. Nach seiner Leistungsexplosion (2023/24 nur fünf Torbeteiligungen) gab es in den vergangenen Wochen immer wieder Gerüchte, dass der 26-Jährige in die zweite Liga wechseln könnte.
Denn auch das ist die positive Kehrseite des Erfolges in Verl. Langes Idee vom Fußball hebt nicht nur Potenziale der Spieler, sondern auch die Trainer empfehlen sich für höhere Aufgaben. So verließ Alexander Ende nach zwei Jahren Verl im Sommer zu Zweiligist Preussen Münster. Seinen Vorgänger Mitch Kniat zog es von Verl zu Arminia Bielefeld, mit denen er bis ins DFB-Pokalfinale kam und in die zweite Liga aufstieg.
Und sein Vorgänger Guerino Capretti, mit dem Verl in die 3. Liga aufgestiegen war, wechselte nach sechs Jahren zu Dynamo Dresden.
In diesem Sommer übernimmt Tobias Strobl das Traineramt und weiß genau, was ihn erwartet. "Der Verein hat eine klare Vorstellung, wie er Fußball spielen möchte und meine Ideen stimmen damit überein", sagte er in einer Vereinsmitteilung.
Das Maximum für den Fußballklub der 26.000 Einwohner zählenden Stadt dürfte beinahe erreicht sein.
"Wenn man sieht, was wir in den vergangenen Jahren für ein sportliches Produkt auf den Platz gebracht haben, muss man sagen, dass wir gewisse Teile des Vereins abgehängt haben."
Und das gilt wohl auch für den 37-jährigen Manager. Denn Gerüchten zufolge soll er neuer Sportchef beim Zweitligisten SC Paderborn werden. Während dem "Westfalenblatt" zufolge bereits eine "grundsätzliche Einigung" zwischen den Klubs bestehen soll, dementierte der SC Verl jegliche Kontaktaufnahme gegenüber der "Neuen Westfälischen". Doch wohin es Sebastian Lange auch zieht: Sein Gespür für Daten wird er im Gepäck haben.