Wer als Mädchen in Afghanistan geboren wird, lebt ein vollkommen anderes Leben als ein Mädchen in Deutschland. Beinahe rechtlos sind Afghaninnen in dem Land – ohne die Möglichkeit auf Bildung oder Bewegungsfreiheit. Viele trauen sich kaum noch auf die Straße.
Unter den Taliban ist die Stimme der Frauen in dem Land eine leise.
Auch Kimia Yousofi ist Afghanin. Die 28-Jährige ist als Sportlerin bei den Olympischen Spielen in Paris dabei, lief am Freitag in der Vorrunde im 100-Meter-Sprint (Platz 9). Das ist nur möglich, weil sie nicht mehr dort wohnt. Denn in Afghanistan herrscht für Frauen auch ein Verbot für Sport.
Die Sprinterin sieht ihre Teilnahme als eine Möglichkeit, die "gestohlenen Träume und Hoffnungen" der afghanischen Frauen zu vertreten, die in ihrer Heimat unterdrückt werden.
Seit der Rückkehr der Taliban an die Macht im August 2021 sind Frauen in Afghanistan massiven Einschränkungen ausgesetzt. Ihr Zugang zu öffentlichen Einrichtungen wie Parks und Fitnessstudios wurde stark eingeschränkt. Diese Maßnahmen führten dazu, dass Sportlerinnen wie Yousofi gezwungen waren, das Land zu verlassen, um einer möglichen Verfolgung zu entkommen.
Yousofis Geschichte ist anders. Ihre Eltern flohen bereits während der ersten Taliban-Herrschaft aus Kandahar nach Iran, noch vor der Geburt der Olympionikin, wie "olympics.com.au" berichtete. Dort wuchsen Kimia und ihre drei Brüder auf. Im Iran entdeckte sie im Alter von 16 Jahren ihre Leidenschaft für die Leichtathletik. "Nach einigem Üben wurde mir klar, dass ich ziemlich gut war und Talent hatte", erinnert sich demnach Yousofi an ihre ersten Schritte im Wettkampfsport.
2012 nahm sie an einem Talentsuchprogramm für afghanische Immigrant:innen im Iran teil – ein Moment, der ihren sportlichen Werdegang entscheidend prägte.
Die Sprinterin war schon 2016 in Rio de Janeiro und 2020 in Tokio dabei. Dann, im Jahr 2021, nach der Machtübernahme der Taliban, geflohen. Mittlerweile lebt sie in Australien im Exil.
Im Juni 2024 gab das Internationale Olympische Komitee bekannt, dass ein gemischtes Team aus sechs Athlet:innen Afghanistan bei den Olympischen Spielen in Paris vertreten werde. Kimia Yousofi ist neben den Velofahrerinnen und Schwestern Fariba und Yulduz Hashimi eine der drei afghanischen Frauen.
"Es ist eine Ehre, die Mädchen meines Heimatlandes erneut zu vertreten", äußerte sich Yousofi in einer Erklärung des AOC. "Mädchen und Frauen wurden grundlegender Rechte beraubt, darunter des Rechts auf Bildung, das wichtigste davon." Sie betont weiter: "Ich vertrete die gestohlenen Träume und Hoffnungen dieser Frauen."
Auf die Bitte um einen Kommentar äußerte sich Atal Mushwanay, Sprecher des Sportdirektorats der Taliban-Regierung, nur knapp: "Wir haben keine Meinung."
Der ARD-Südasien-Korrespondent Peter Hornung gab im SRF einen Einblick:
Dazu müsse man wissen: Die Taliban sind international nicht als legitime Regierung von Afghanistan anerkannt – deshalb sind sie auch nicht vom IOC eingeladen.
Yonus Popalzay, der Präsident des afghanischen Olympischen Komitees, betonte hingegen den Stolz des Landes: "Wir freuen uns, dass zum ersten Mal drei weibliche Athletinnen bei Olympischen Spielen dabei sind." Er dankte dem AOC für die Unterstützung, die Yousofi zuteilwurde.
Auch die Sportlerin drückte ihre Dankbarkeit gegenüber dem AOC und dem afghanischen Olympischen Komitee aus, dessen Führung sich im Exil befindet, wie Reuters berichtet. "Es ist uns die Chance gegeben worden, unsere Träume wieder zu erleben und zu verfolgen", sagte sie.
AOC-Geschäftsführer Matt Carroll lobte Yousofis Mut und bezeichnete ihre Geschichte als "Inspiration für Frauen und Mädchen in Afghanistan und überall auf der Welt, denen grundlegende Rechte verwehrt werden, darunter das Recht, frei Sport zu treiben."
Yousofis Trainer, John Quinn, fungiert in Paris als Cheftrainer der afghanischen Mannschaft. Über Yousofis Entwicklung sagte er zu Reuters: "Auf der Strecke hat sie sich technisch enorm verbessert, seit sie hierhergekommen ist, und sie hat eine großartige Mannschaft um sich herum."
Quinn fügte hinzu, dass die Sprinterin extrem viel unter einen Hut bringen musste, etwa eine neue Sprache lernen und ihre Familie nach Australien bringen. "Ihre Bemühungen haben die anderen Teammitglieder sicherlich inspiriert. Jetzt steht sie in Paris wieder auf der Weltbühne", schloss Quinn.
Zwar erreichte Yousofi beim Sprint am Freitag nur den neunten Platz (13,42 Sekunden), eine Hoffnungsträgerin bleibt sie für die Frauen in Afghanistan aber trotzdem.