Die Flugphase dauerte genau sechs Sekunden und wurde von lautstarken "Flieg"-Rufen begleitet. Dann war es geschafft. Mit einem perfekten Telemark landete Sven Hannawald seinen zweiten Sprung auf der Schanze in Bischofshofen bei 131,5 Metern und schaffte Historisches. "Er hat es geschafft, der Mythos der Vierschanzentournee ist besiegt", sagte der damalige RTL-Kommentator Tom Bartels.
Die Freude war grenzenlos. Hannawald schlug mit seinen Fäusten in die Luft und schrie die Freude heraus. Seine Eltern und seine Schwester sprangen über die Absperrung, ignorierten die Security und lagen dem damals 27-Jährigen in den Armen.
Tom Bartels dokumentierte diesen historischen Moment damals genau: "6. Januar 2002, 15:56 Uhr und 55 Sekunden: Sven Hannawald im Jubel vereint mit seiner Familie."
Hannawald war der erste Athlet, der alle vier Springen der historischen Tournee in Deutschland und Österreich gewinnen konnte. Er wurde auch durch RTL, wo die Springen damals gezeigt wurden, zum deutschlandweiten Star. Und der Kölner Privatsender feierte sich für unglaubliche TV-Quoten.
Doch für den heute 49-Jährigen hatte der historische Erfolg einen hohen Preis. Doch von vorn.
Hannawald kam insgesamt gut in die Saison 2001/2002 und gehörte vor Beginn der prestigeträchtigen Tournee zu den besten 15 Springern der Gesamtwertung und war automatisch für den Wettkampf qualifiziert. Um Kraft zu sparen, setzte er bei allen vier Springen die jeweiligen Qualifikationsspringen aus und musste im ersten Durchgang jeweils gegen den besten Springer des Quali-Springens antreten.
Während der Tournee wird der erste Durchgang im K.o.-Modus ausgetragen, wodurch Hannawald direkt bei seinen jeweils ersten Sprüngen abliefern musste.
Den ersten Tourneewettkampf in Oberstdorf gewann er nach zwei Sprüngen auf 122 Meter souverän mit acht Punkten Vorsprung auf den Österreicher Martin Höllwarth.
Das Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen begann für den Sachsen mit einem kleinen Schock. Das direkte Duell im ersten Durchgang mit Andreas Widhölzl ging verloren. Doch Hannawald kam als "Lucky Loser" weiter. Die besten fünf Springer, die das K.o.-Duell verlieren, erreichen trotzdem den zweiten Durchgang.
Dort sprang er auf 125 Meter und holte den Gesamtsieg auf der Schanze mit 1,7 Punkten Vorsprung auf Widhölzl.
Die kleine Schwäche ließ Hannawald unbeeindruckt. Im ersten Durchgang beim dritten Springen in Innsbruck stellte er kurzerhand mit 134,5 Metern einen Schanzenrekord auf, der bis 2015 Bestand hatte. Auch den zweiten Durchgang entschied er souverän für sich und baute seinen Vorsprung vor dem letzten Springen auf 40 Punkte aus.
Das hatten zuvor auch schon andere Springer geschafft. Doch dann waren sie am Mythos "Vierschanzentournee" gescheitert. Vier Jahre zuvor war Kazuyoshi Funaki am Druck zerbrochen und wurde nach drei Siegen beim letzten Springen in Bischofshofen nur noch Achter.
In TV-Interviews wollte Hannawald den Druck bewusst von sich weg halten. "Ich mach' mein Zeug", wiederholte er immer wieder. Und ganz Deutschland stand an seiner Seite.
Schließlich erreichte RTL damals ein Millionen-Publikum. Das finale Springen in Bischofshofen verfolgten 13,2 Millionen Zuschauer:innen am TV. Hannawald stand enorm unter Druck: Versagen verboten.
Mit ihren Sprüngen auf 134,5 Meter und 134 Meter erhöhten der Slowene Robert Kranjec und der Finne Matti Hautamäki diesen zusätzlich. Doch Hannawald ließ sich nicht beirren und setzte mit 139 Metern noch einen drauf. Der historische Triumph war nur noch einen Sprung entfernt.
Hannawald wollte cool bleiben, doch innerlich sah es vor dem zweiten Sprung ganz anders aus. "Mir war es zu viel. Und mir war es wurscht, ob ich den blöden vierten Sieg schaffe. Hauptsache, das ganze Theater ist durch", sagte er rückblickend 2020 in einem Interview mit dem "SWR".
Trotz Egal-Einstellung flog er noch einmal 131,5 Meter weit, landete im Telemark und sorgte für einen Gefühlsausbruch bei sich, seiner Familie, Kommentator Tom Bartels und über 13 Millionen Menschen vor dem Fernseher.
"Ich hätte gern gefeiert und habe versucht, einzusteigen, aber habe relativ schnell aufgegeben. Ich war da in meinen Gedanken und habe mich dreimal gefragt, ob es wirklich wahr ist", erzählte Hannawald dem SWR.
Doch gleichzeitig betonte er: "Ich habe für den Jugendtraum des kleinen Sven alles gegeben, über viele Jahre, teilweise Jahrzehnte. Das hat am Ende gekostet."
Bei den anschließenden Olympischen Spielen in Salt Lake City konnte er seine Top-Form zunächst noch unter Beweis stellen. Er gewann Silber auf der Normalschanze und Gold mit der Mannschaft. "Hanni", wie der Skispringer genannt wurde, war in Deutschland ein Superstar.
Skispringen war in dieser Zeit sogar so populär, dass RTL bis 2007 Skispringen als Computerspiel veröffentlichte.
Doch was diese Erfolge gekostet hatten, wurde nach zwei enttäuschenden Jahren deutlich. Im Urlaub hatte er "Alpträume, geheult den ganzen Tag, wusste aber gar nicht warum. Wir hatten normale Gespräche oder es ist nichts passiert, was gefährlich war." Ein Arzt für Psychosomatik riet ihm nach seiner Rückkehr, dass er sich dringend eine Klinik begeben solle.
"Burn-Out wusste ich damals, wie man es schreibt und, dass es Sebastian Deisler gab. Ich habe mich daran erinnert, dass ich es damals auch nicht verstanden habe", sagte er.
Deisler war vor 20 Jahren das größte Talent im deutschen Fußball, wechselte 2002 zum FC Bayern und machte Ende 2003 erstmals seine Depressions-Erkrankung öffentlich. Der Ex-Profi kämpfe sich zurück, erlitt jedoch auch durch zahlreiche Verletzungen immer wieder Rückschläge und zog sich 2007 komplett aus dem Fußballgeschäft zurück.
Hannawald beendete seine Karriere schon zwei Jahre zuvor und brauchte zunächst Abstand vom Sport. Seit 2016 ist er aber wieder an den Schanzen und als Experte tätig. Zunächst für den Spartensender Eurosport, seit 2020 ist er bei den ARD-Übertragungen der Weltcup-Springen und natürlich der Vierschanzentournee vor der Kamera.
Mittlerweile hat er im Klub der Alles-Gewinner der Tournee auch Gesellschaft bekommen. Dem Polen Kamil Stoch (2017/18) und dem Japaner Ryoyu Kobayashi (2021/2022) gelang dies ebenfalls.